Der Innenminister tritt gern in der Haltung des Vordenkers auf. Dabei sorgt Herbert Kickl meistens dafür, dass sich umgehend Aufregung – Shitstormgarantie gewissermaßen – einstellt.

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Dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht", scheint von solch einsichtsvoller Hintergründigkeit, dass man sogleich vermeint, dem Innenminister wäre es in dieser Aussage gelungen, das staatstheoretische Räson-nement einer ganzen Epoche zu einer entscheidenden Maxime zu verdichten. Als "Grundsatz" ausgewiesen und auf diese Weise mit zusätzlicher "gravitas" versehen, muss die so gefasste Einsicht dann besonders eindrücklich erscheinen, wenn sie gleichsam beiläufig in Ausführungen eingeflochten wird, die den drängenden realpolitischen Herausforderungen gewidmet sind: Wer Grundsätze hat, kann in der Verfolgung seiner Ziele kaum fehlgehen; umso weniger, wenn diese Ziele vom Diktat der Notwendigkeit vorgegeben scheinen, wenn das Richtige doch mit freiem Auge zu erkennen ist.

Der Innenminister mag in der Folge enttäuscht darüber gewesen sein, dass seine Ausführungen dermaßen negativ aufgenommen wurden, dass er sich nunmehr mit Rücktrittsaufforderungen und Misstrauensbekundungen konfrontiert sieht. Vielleicht war er aber auch enttäuscht darüber, dass man seinen Reflexionen nicht nur verständnislos, sondern vielfach auch unverständig begegnete. Immerhin: Mit dem Verweis auf die Gesetzesbindung der Verwaltung die Gestaltungsmacht der politischen Sphäre infrage stellen zu wollen, reicht nicht einmal weit genug, um zu kurz zu greifen. Und reflexartig den Verfassungsrang bestimmter Elemente unserer Rechtsordnung in Erinnerung zu rufen, kann, wie jede andere rein auf formale Momente gestützte Argumentation, nur jenen in die Hände spielen, die gerade die Veränderung des bestehenden Rahmens einfordern.

"Hinweis auf die Veränderbarkeit"

Allzu einfach war es für den Minister vor diesem Hintergrund im Rahmen einer "Richtigstellung", die am Freitag erfolgte (ein obligates Element gegenwärtiger politischer Dramaturgie), das Gesagte als "Hinweis auf die Veränderbarkeit gesetzlicher Regeln durch einen demokratischen Gesetzgebungsprozess mit entsprechenden Mehrheiten" darzulegen.

Aber wie schmerzhaft muss es für ihn gewesen sein, die tiefe Einsicht einer Banalität wie der Feststellung, dass das Recht Voraussetzung, Grenze und Folge des Politischen ist, zu opfern. Denn wie künstlich muss dem, der die Wechselwirkung von Politik und Recht als Folgeverhältnis beschreibt, die strikte Trennung des einem vom anderen und damit die Betonung der Eigenständigkeit rechtlicher Maßgaben von politischen Erwägungen erscheinen?

Das Primat des Politischen zu postulieren heißt, wenig mit derartigen Subtilitäten anfangen zu können. Es zu strapazieren bedeutet, die finale Entscheidungsgewalt zu beanspruchen; es bedeutet zu beanspruchen, das Recht auf seine Richtigkeit zu überprüfen und auf Basis des Ergebnisses zu handeln. Das Primat des Politischen zu betonen bedeutet, den Glauben an einen formalen Legalismus und an die Grenzen, die das Recht dem zieht, was man als richtig anerkennt, abzulegen. Und es bedeutet, das Pouvoir zu beanspruchen, endlich jenen effektiv entgegenzutreten, die sich hinter diesen Grenzen in der Sicherheit von Trutzburgen wähnen, die auf einem Wertefundament errichtet wurden, das längst durch die Herausforderungen der Gegenwart entwertet wurde; endlich effektiv zwischen Freund und Feind zu unterscheiden.

"[D]ass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht", fordert damit auch eine Verschiebung im Gefüge der Gewalten: Die Deutungshoheit der Regeln des Zusammenlebens der Gemeinschaft soll nicht länger bei jenen monopolisiert werden, die in der unverantwortlichen Unabhängigkeit des Auslegungswegs jenes Rechtssystem geschaffen haben und aufrechterhalten wollen, das sich einer Richtigkeit entgegenstemmt, die aus der Notwendigkeit geboren wird. Vielmehr sollen jene entscheiden, die das Ohr am Volk und die Hand am Puls der Zeit haben. Auf sie soll es ankommen, wenn es darauf ankommt.

Kein neues Denken

Dieses Denken ist deshalb so gefährlich, weil es keineswegs absurd ist. Es ist auch keineswegs neu. Vielmehr fasst die vom Innenminister strapazierte Maxime tatsächlich das staatstheoretische Räsonnement einer ganzen Epoche zusammen: jenes, das insbesondere in der Person Carl Schmitts die Zwischenkriegszeit entscheidend geprägt und wesentlich dazu beigetragen hat, das zu legitimieren, wogegen sich der liberale Rechtsstaat der Zweiten Republik (auch in seiner regionalen Einbettung in einem vereinten Europa und in seiner internationalen Verflechtung) mit jeder Faser seines Wesens stemmt.

Allein deshalb lässt sich der Einforderung eines Primats des Politischen nicht mit einem vielfach aufgrund formaler Argumente geführten Diskurs begegnen. Liberalität, Egalität und Legalität als Werte, auf denen unsere Rechtsordnung errichtet wurde, sind weder beliebig noch veraltet; ebenso wenig sind es die Institutionen, denen es zukommt, diese Werte durchzusetzen, oder die Instrumente, derer sie sich dabei bedienen. Darüber sollten wir sprechen. Das sollten wir hochhalten. Alles andere ist zu einfach. Für beide Seiten der Debatte. (Christoph Bezemek, 27.1.2019)