In Wahrheit verursachen Muskeln und Faszien die Schmerzen an Bandscheibe und Gelenken, sagt Roland Liebscher-Bracht.

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Es klingt schlichtweg unfassbar: Bandscheibenvorfall, Knieschmerzen oder Hüftarthrose – wer diese Beschwerden hat, dem kann geholfen werden, und zwar im Nullkommanichts. Der Mann, der diese waghal- sige Theorie aufstellt, ist Roland Liebscher-Bracht, selbsternannter Schmerzspezialist, seiner Ausbildung nach Wirtschaftsingenieur mit Schwerpunkt Maschinenbau.

Wie das gehen soll? Am menschlichen Körper hat er 72 Punkte ausfindig gemacht, die, wenn sie gedrückt werden, Spannungen und somit Schmerzen lindern können. "Im Gehirn wird ein Reset gemacht zurück in den genetisch normalen Spannungszustand, in dem sich der Körper eigentlich befindet, bevor er auf Abwege trainiert wird. Bei neun von zehn Patienten wird der Schmerz durch das Drücken dieser Punkte auf 0 bis 30 Prozent reduziert", behauptet Liebscher-Bracht. Und dabei sei es ganz egal, ob chronische Schmerzen seit 30 Jahren bestehen oder ein Bandscheibenvorfall gerade erst passiert ist. "Wir können den Schmerz sofort wegnehmen", sagt Liebscher-Bracht. Der Körper sei biologisch veränderbar, regenerierbar, umbaubar, "bis ins höchste Alter".

Die Theorie hinter der Behauptung: Durch falsche Belastung und mangelnde Bewegung entstehen in Muskeln und Faszien Spannungen, die im Gehirn Alarmschmerzen auslösen. Erst diese Spannungen führen überhaupt zu kaputten Gelenken, sagt Liebscher-Bracht. Er behauptet inbrünstig: "Die Theorie ‚Der Bandscheibenvorfall drückt auf die Nervenwurzel, und das verursacht den Schmerz‘ ist ein Jahrhundertirrtum." Seine Erklärung dafür: "Ein Knorpel, der abreibt, kann gar nicht wehtun. An dieser Stelle sitzen keine Schmerzrezeptoren."

Gelenk entzündet

In der Fachwelt sorgt Liebscher-Bracht für Aufregung, vor allem Orthopäden und Physiotherapeuten sehen seine Methode kritisch. So auch der Wiener Facharzt für Orthopädie Ronald Dorotka. Er erklärt, was dran ist: "Der Knorpel hat tatsächlich keine Schmerzrezeptoren. Die Muskulatur ist aber nur ein Teil des Schmerzempfindens. Bei Arthrose ist nicht nur der Knorpel geschädigt, sondern das ganze Gelenk entzündet. Die Bänder und die Gelenksinnenhaut sind extrem gereizt. Dort sind sehr viele Nervenendigungen, das tut dann weh."

Erst als Folge davon verkrampfe sich die Muskulatur, so der Mediziner. Die Behandlung der Muskulatur sei ohnehin schon längst Teil der Therapie, in Form von Physiotherapie. "Es nur an den Muskeln und Faszien festzumachen ist daneben", sagt der Orthopäde und erklärt auch, warum das nicht richtig sein kann: "Wäre tatsächlich nur die Muskulatur für alles verantwortlich, dann dürfte kein Mensch, der ein künstliches Gelenk bekommt, je Schmerzfreiheit erlangen. Tatsache ist: Wenn man das Gelenk austauscht, ist auch der Schmerz deutlich geringer."

Dem widerspricht Liebscher-Bracht: Viele Menschen hätten auch nach einer OP noch Schmerzen. "Weil sich ja an der Ursache, also den Spannungen in Muskeln und Faszien, nichts geändert hat." Er geht sogar so weit zu behaupten, dass Schäden gar nicht repariert werden müssen. "Es ist nicht nötig, dass eine gerissene Bandscheibe sich wieder aufbaut. Es gibt viele Leute, die mit geschädigten Bandscheiben herumlaufen und gar nichts davon merken." Dass Operationen Schmerzen in den meisten Fällen verbessern, belegen wissenschaftliche Daten. Bei künstlichen Hüftgelenken haben nach der OP weniger als zehn Prozent der Patienten noch Schmerzen, bei Kniegelenkersatzoperationen sind es rund 20 Prozent. Der Rest der Patienten ist bis zu 20 Jahre nach dem Eingriff schmerzfrei.

Zu viele OPs

Liebscher-Bracht glaubt nicht daran, erhebt schwere Vorwürfe gegen Ärzte: "Ein großer Teil der Operationen sind eigentlich Kunstfehler", sagt er, betont aber mehrmals, dass die Orthopäden nichts dafürkönnten, nicht absichtlich so handelten – "sie operieren einfach, weil sie es so gelernt haben." Warum die Mediziner die – seiner Meinung nach – wahre Ursache der Schmerzen übersehen, erklärt sich Liebscher-Bracht so: "Spannungen sieht man auf Röntgen, CT oder MRT nicht. Ärzten wird auf der Uni antrainiert, nur zu glauben, was sie sehen."

Orthopäde Dorotka will die Vorwürfe nicht auf sich und seinen Kollegen sitzen lassen: "Man kann darüber diskutieren, ob zu viel operiert wird. Doch uns Medizinern ist klar, dass ein Röntgenbild oder ein MRT nur eine Momentaufnahme ist und keine Auskunft über die Funktion gibt." Deshalb, so der Mediziner, sei eine ausführliche Untersuchung Teil jeder Diagnose. "Die Muskulatur wird abgetastet, die Gelenkbeweglichkeit getestet. Die Zeiten, in denen nur Röntgenbilder behandelt wurden und nicht Patienten, sind längst vorbei."

Großer Schwindel

Geht es nach Liebscher-Bracht, sind Arthrose, chronische Schmerzzustände und ihre mühsame Heilung ein großer Schwindel. Sein Buch Die Arthrose-Lüge sorgt bei Dorotka für Kopfschütteln: "Liebscher-Bracht behauptet, dass alle Ärzte und Physiotherapeuten weltweit Dinge behaupten, die nicht stimmen, und er der Einzige ist, der die Wahrheit gefunden hat." In jedem Fall verkauft Liebscher-Bracht seine "Entdeckung" gut. Wie ein Superheiler tourt er durch die Städte, wird auf seinen Vorträgen wie ein Star gefeiert. Seine Geschäftsstrategie: auf seine Homepage locken, dort werden Faszien-Sets, DVDs, Bücher und Nahrungsergänzungsmittel angeboten. Der Online-Auftritt wirkt professionell, die Aufmachung erinnert an Sendungen in Teleshopping-Kanälen.

Auf das umfangreiche Marketing und seinen Geschäftssinn angesprochen, sagt Liebscher-Bracht: "Wir wollen den Menschen nur helfen" und verweist auf die zahlreichen Youtube-Videos, die sein Unternehmen zur Selbsthilfe kostenlos anbietet. Denn, so gibt er zu: Nach Anwendung seiner Methode kommen die Schmerzen oft wieder. Deshalb müssen Patienten täglich zehn bis 15 Minuten spezielle Übungen machen. Diese wirken gut, weil die Dehnungszeit sehr lange ist, "anders als bei Yoga oder Pilates", sagt Liebscher-Bracht und teilt den nächsten Seitenhieb aus: Denn in diesen Bewegungskulturen werde gelehrt, dass man aufhören soll, wenn es wehtut. Anders bei den Übungen nach Liebscher-Bracht. Auf einer Schmerzempfindungsskala von null bis zehn seien erst Intensitäten ab acht wirkungsvoll, sagt er.

Viele verschiedene Ansätze

Trotz Trainingsanleitungen im Internet gehen Patienten für gewöhnlich drei- bis viermal zu Therapeuten, die die Liebscher-Bracht-Methode anbieten, in Österreich sind es mehr als 70 – darunter Ärzte, Heilmasseure und Physiotherapeuten. Liebscher-Bracht bildet sie aus. Therapeuten, die die Methode lernen wollen, bezahlen 69 Euro pro Monat und können regelmäßig an Weiterbildungen teilnehmen.

Und was bringt die Therapie aus Orthopädensicht? "Wir wissen seit sehr langer Zeit, dass manuelle Therapien, egal ob klassische Massage, Triggerpunkttherapien oder Akupressur, eine heilsame Wirkung haben. Da gibt es hunderte unterschiedliche Ansätze und Methoden, eine ist die von Liebscher-Bracht. Mit dem Unterschied", sagt Dorotka, "dass er seinen Patienten Heilung verspricht." (Bernadette Redl, 29.1.2019)