Altorientalistin, Ethnologin, Schriftstellerin: die 1979 geborene, in Berlin lebende deutsche Autorin Kenah Cusanit.

Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Babylon im Jahr 1913. Ein Mann braust auf seinem Motorrad, einer Brennabor made in Brandenburg, die ihm ein Mäzen geschenkt hat, im makellos weißen Leinenanzug durch die Ruinen der gerade freigelegten antiken Metropole. Er tut es mit zu hoher Geschwindigkeit, abseits der Straße, ohne Licht und unter Einfluss von Dattelschnaps. Er heißt Robert Koldewey – und er ist die Hauptfigur von Kenah Cusanits famosem Romandebüt Babel.

Dieser Koldewey (1855-1925), eine historische Figur, deren Lebensmotto "ich ärgere mich nicht, ich ärgere lieber die anderen" lautete, sorgt in Cusanits Roman mehr als einmal dafür, dass die Nerven blank liegen. Auch die Wilhelms des Zweiten. Verantwortlich für die Verstimmung des Kaisers sind nicht etwa die politischen Krisen, die sich durch das Wanken des Osmanischen Reichs und eine fragile Habsburgermonarchie ankündigen, sondern vor allem ein einzelner Mann: Robert Koldewey.

Dem Wahnsinn verfallen

Der orientbegeisterte Kaiser und die Deutsche Orientgesellschaft haben den aus Sachsen-Anhalt gebürtigen Architekten und Archäologen mit einer erklecklichen Summe Geld ausgestattet und als Grabungsleiter in den Irak nahe Bagdad entsandt.

Er soll dort im Wettlauf der europäischen Kolonialmächte um die mesopotamische Antike und die historischen Stätten der Bibel den Ruhm des Deutschen Kaiserreichs mehren. Denn dieses ist im prestigeträchtigen Wettbewerb um Kulturgüter, die sich in heimische Museen verschleppen lassen, ins Hintertreffen geraten. Doch Koldewey trieb die Geldgeber zunächst mit unkonventionelle und umständlichen Grabungsmethoden in den Wahnsinn. Der Kaiser lässt ihn gewähren. Noch.

Sensationsfund

Während also der Kodex des Hammurabi, den die Franzosen in Susa freigelegt hatten, im Louvre zu bewundern war und im British Museum die Reliefplatten aus Königspalästen der Assyrer hingen, stand Berlin noch mit leeren Händen da. Bis Koldewey auf die Mauern von Babylon und 1912 – endlich – auf den Grundriss des Turmes zu Babel stieß.

Kurz nach diesem Sensationsfund setzt die Handlung des Romans ein, der einen gewaltigen kulturgeschichtlichen Bogen aufspannt. So erzählt das Buch nicht nur von den Canossagängen Koldeweys zum erzürnten Kaiser nach Berlin, sondern vor allem von den Arbeiten auf der größten Ausgrabungsstätte Vorderasiens. Manche Bauten lagen bis 20 Meter unter der Erde. 200 Arbeiter schafften tonnenweise Schutt beiseite. Sie legten dabei Atemberaubendes frei, die Paläste Nebukadnezars etwa, den Turm, das Ischtar-Tor mit seinen Löwen und Stieren, die auf blauglasierten Ziegeln daherschreiten, oder die große Prozessionsstraße.

Frei von Ideologie

Dass der Roman nicht von seinen genau recherchierten Fakten erdrückt wird, hat viel mit der Gekonntheit zu tun, mit der die 1979 geborene Kenah Cusanit ihr Material arrangiert. Denn Babel ist ein Buch über weit mehr als ein paar Männer, die im Wüstensand wühlen. Es ist auch mehr als ein Roman über menschliche Hybris (der Turm!) oder arroganten Kulturimperialismus. Ein historischer Roman über einen Schatzsucher ist es erst recht nicht.

Vielmehr wird Babel über die sture und scheinbar aus ihrer Zeit gefallene Figur Koldewey, der nicht nur auf Teufel komm raus graben, sondern verstehen will, zu einem Buch, das zahlreiche aktuelle Bezüge aufweist – nicht nur zur Diskussion über die Rückgabe von Kulturgütern an die Ursprungsländer. Man müsse, denkt sich Koldewey an einer Stelle, sich von seiner lokalen Art zu denken und zu handeln entfernen, wolle man nicht, am Ziel angekommen, denselben Ort vorfinden, den man gerade verlassen hat. Man kann das auch Ideologiefreiheit nennen.

Heimat und Fremde

Der Roman ist voller Reflexionen über Heimat und Fremde, Wissenschaft und Religion, Oberfläche und Untergrund, Vergangenheit und Zukunft. An vielen Stellen handelt er zudem von Bild und Abbild und von dem, was die Autorin das "Nadelöhr des Blicks" nennt, das es zu weiten gilt.

Die große Stärke von Babel liegt darin, dass das Buch im Offenen endet. Der Krieg wird dem Kaiser und Koldewey einen Strich durch die Rechnung machen. Das Ischtar-Tor wird erst 1930 nach vielen Fährnissen dann doch noch seinen Weg ins Pergamon-Museum zu Berlin finden. Davon erzählt Rahel Cusanit nicht, dafür erwähnt sie ganz am Schluss des Buches ein paar Orte, die später noch einmal in den Fokus des öffentlichen Interesses geraten sollten. Sie werden nur nebenbei erwähnt und eröffnen im feinen Erzählgeflecht einen weiteren Hallraum: Die Orte heißen Aleppo, Falludscha oder Abu Ghuraib.

Die große Prozessionsstraße, die Koldewey freilegte und über die einst Daniel, Nebukadnezar und Alexander der Große gingen, wurde übrigens im Zweiten Irakkrieg von den Ketten der über sie rollenden Panzern zerstört.

Babel ist ein Romandebüt, das sprachlich und formal überzeugt. Es zeigt, dass der Hanser-Verlag, der gerade für das Kitschbuch Stella von Takis Würger von den Feuilletons gescholten wird, auch anders kann. (Stefan Gmünder, 28.1.2019)