Still aus dem Film "Vienne en Tramway" von 1906. Verkehr und die Bewegung im öffentlichen Raum sind ein wiederkehrendes Thema der Stadtfilme.
Foto: Österreichisches Filmmuseum/Pathé Frères

Eine Begegnungszone vor ihrer Erfindung. Wiener Straßenalltag, gedreht im Sommer 1896. Lange Zeit vor der Motorisierung der Stadt flanierte das Bürgertum über die Opernkreuzung, während Personenkutschen auf der Straße auf und ab fuhren. Was die beiden Brüder Louis und Auguste Lumière vor rund 120 Jahren in "Le Ring" filmisch einfingen, gibt auch Einblick in die einstige Nutzung der Ringstraße.

60 Jahre später ist an eine Überquerung der Opernkreuzung zu Fuß kaum noch zu denken. Die Stadt quillt über vor Fahrzeugen, das belegt der 1957 im Auftrag der Wiener Stadtbaudirektion entstandene Streifen "Operation Wien". Montiert aus Aufnahmen eines Ärzteteams und aus Bildern von Bauarbeiten, werden Verkehrskonzepte wie der Bau der Opernpassage als operativer Eingriff in den Stadtkörper beschrieben.

Stadt-Film-Beziehung

Wie haben sich urbane Räume in Europa und ihre filmische Repräsentation seit dem frühen Kino entwickelt? Welche mediengeschichtlichen Erkenntnisse lassen sich anhand dieser Darstellungen gewinnen? Und wie können Archivbestände sowohl für die interdisziplinäre Forschung als auch für eine breitere Öffentlichkeit auffindbar gemacht werden? Das sind Fragen, dem das Forschungsprojekt I-Media-Cities nachgeht.

Über einen Zeitraum von drei Jahren setzt sich das von der Europäischen Kommission geförderte Projekt mit den vielfältigen Beziehungen zwischen Stadt und Film auseinander. "Das Medium Film und die moderne Großstadt teilen eine Geschichte miteinander, eine Geschichte der Bewegung im Bild und im Raum der Stadt", sagt Ingo Zechner. Er ist Historiker und leitet das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft in Wien. Gemeinsam mit Michael Loebenstein, Kurator und Direktor des Österreichischen Filmmuseums, ist er Teil der Forschungsplattform I-Media-Cities.

Neue Perspektiven

Bisher waren Bestände in einzelnen Filmarchiven verstreut. I-Media-Cities fügt digitalisierte Filmbilder europäischer Städte zusammen und eröffnet derart neue Zugänge der Archivnutzung. Stadthistoriker, Filmwissenschafterinnen und Archivare arbeiten hier zusammen. Durch die Digitalisierung habe sich der Zweck der Erhaltung und Bewahrung radikal verändert, sagt Michael Loebenstein. "Erhaltung bedeutet jetzt nicht mehr nur die physische Bewahrung von Dokumenten, sondern auch den unbegrenzten und fortlaufenden Zugang zu Dokumenten zu sichern." Eine Mediathek filmischer Bilder erlaube zudem viele Einzelgeschichten, die sich durch den User zu neuen Sinnzusammenhängen zusammenfügen würden.

Ausschnitt aus "Vienne en Tramway", eine Produktion von Pathé Frères aus dem Jahr 1906.
Austrian Film Museum

Für Wien wurden 80 bereits digitalisierte Filme ausgewählt: Eine Hälfte stammt aus dem Filmmuseum, die andere aus dem Filmarchiv der Media Wien (ehemals Landesbildstelle Wien), die heute im Wiener Stadt- und Landesarchiv angesiedelt ist. Darunter finden sich auch sogenannte ephemere Filmdokumente wie Amateurfilme, Industriefilme, Wochenschauen oder Experimentalfilme. Mit der kuratierten Auswahl soll ein möglichst breites Spektrum an Zeiträumen, Orten und Themen abgedeckt werden.

Online-Archiv für Stadtfilme

Insgesamt sind neun Filminstitute mit fünf Forschungseinrichtungen und zwei Technologiepartnern beteiligt, koordiniert wird das Projekt von der Cinémathèque Royale de Belgique. Rund 1200 Filme werden bis zum Projektende im März 2019 auf der Plattform online zugänglich gemacht. Aber: "I-Media-Cities ist kein Digitalisierungsprojekt, sondern ein digitales Erschließungsprojekt", sagt Ingo Zechner. "Das ist gewissermaßen ein Vorgriff auf einen Zustand der digitalisierten Filmbestände, von dem wir in Österreich noch weit entfernt sind."

Mit I-Media-Cities entstehe so etwas wie ein Onlinearchiv "filmischer Städte": Athen, Barcelona, Bologna, Brüssel, Frankfurt am Main, Kopenhagen, Stockholm, Turin und Wien sind Gegenstand und Akteure des Projekts. Aber nicht nur das. In einem aufwendigen Verfahren werden die Filme bis auf die Ebene ihrer einzelnen Einstellungen zerlegt und vollständig synchron katalogisiert.

Digitale Forschungstools

Wer nach einer bestimmten Filmszene sucht, muss sich jetzt nicht mehr den gesamten Film im Vor- oder Schnelldurchlauf ansehen. Stattdessen können die Filme nach zeitlichen, inhaltlichen oder formalen Kriterien gefiltert werden. Zusätzlich gesetzte Tags fügen den Beständen weitere Informationen, wie Orts- und Personenbeschreibungen, hinzu. "Man kann bis in die kleinsten Momente der Filme hineinbohren", sagt Loebenstein. Und das erlaube ein sehr spezifisches Suchen – wie auch unverhoffte Entdeckungen. "Es ist die pure Freude an der Recherche", so der Direktor des Filmmuseums.

Recherchieren mit intelligenten Tools: Screenshot von der Plattform des Projektes I-Media-Cities.
Foto: IMC

Technologische Verfahren wie die automatische Bildanalyse und zeitbasierte Annotation kommen dabei zum Einsatz, ebenso wie künstliche Intelligenz. Hier werden die digitalen Werkzeuge auf die Erkennung von Objekten trainiert. "Die Arbeit mit den automatisierten Tools ist noch sehr experimentell", erzählt Zechner. Ein großer Teil der Daten müsse noch manuell eingegeben werden. Und das Gegenchecken der Ergebnisse sei wichtig, um die Computerprogramme noch präziser zu machen.

Erkennungstechnologien

Was die Software betrifft, komme vieles an Erkennungstechnologie aus der Datenforensik. "Die Erkennungsprogramme, die am besten funktionieren, sind jene mit wirtschaftlicher Anwendbarkeit", sagt Loebenstein. Große Technologiekonzerne würden ähnliche Dinge mit anderen Mitteln und Zielen tun, so Zechner. Etwa wenn Google und Amazon Daten und Metadaten über die Gesichtserkennung in gratis Foto- und Videospeichern sammeln.

Die nichtprofitorientierte Plattform I-Media-Cities hingegen verfolgt das Ziel, Forschungsergebnisse weitestgehend gemeinnützig zur Verfügung zu stellen. Denn: "Wenn man aus verschiedenen Gründen ein Problem damit hat, sein gesamtes von der öffentlichen Hand übergebenes Erbe einem Technologiegiganten zu überantworten, dann muss man sich etwas Neues überlegen", so Loebenstein. "Digital Humanities"-Projekte wie I-Media-Cities seien in Zeiten von Fake-News und Alternative Facts ein Schritt, um Qualität und Authentizität zurück in den digitalen Raum zu bringen. (Christine Trageler, 3.2.2019)