Wien – Die geplante Einführung eines Ethikunterrichts für Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, greift Experten zu kurz. Alle Schüler sollten in Ethik unterrichtet werden, fordert eine Plattform verschiedener NGOs.

Ethik solle für alle Schüler ab der ersten Klasse Unterstufe verpflichtend sein, sagen die Vertreter der Initiative Religion ist Privatsache, des Frauenvolksbegehrens, der SP-nahen Schüler und der Neos gemeinsam mit dem Religionspädagogen Anton Bucher.

"Abkehr vom Kaffeehausbesuch"

"Es sind grundsätzlich alle für einen Ethikunterricht – es geht dabei nur um die Modalität", konstatiert Eytan Reif, Sprecher der Initiative Religion ist Privatsache. Umso mehr verblüffe es ihn, dass Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) als Hauptargument für dessen Einführung als Ersatzunterricht nur für "Religionsverweigerer" die "Abkehr vom Kaffeehausbesuch" nenne.

Seit 1997 läuft in Österreich der Schulversuch Ethik, derzeit nehmen über 200 Schulen teil. Mit dem Schuljahr 2020/21 ist die Einführung von Ethik als Ersatzpflichtgegenstand zum Religionsunterricht an der Oberstufe geplant. Mittelfristiges Ziel müsse aber die Einführung in Neuen Mittelschulen und der AHS-Unterstufe sein, waren sich auch die Experten beim "Science Talk" des Bildungsministeriums am Montag einig.

Eigenes Studium gefordert

Zumindest sei der Minister aber ehrlich. "Er macht klar, wohin die Reise führen soll – zu weniger Abmeldungen vom Religionsunterricht", sagt Reif. Die Einstellung laute offenbar: "Der Ethikunterricht hat sich dem Religionsunterricht unterzuordnen und hat diesem zu dienen." Das lehne man ab: "Weder ist Ethik Ersatz für Religion, noch sind sie gleichwertig." Daher stehe man auch Faßmanns Plan negativ gegenüber, dass vor allem Religionslehrer mit Zusatzausbildung Ethik unterrichten sollen. "Wir brauchen ein eigenes Lehramtsstudium." Darüber hinaus sollten Religionslehrer nicht in derselben Schule auch Ethik unterrichten dürfen, um Interessenkonflikte zu vermeiden – eine solche Regelung gebe es etwa in Bayern und Baden-Württemberg.

Der Religionspädagoge und Erziehungswissenschafter Anton Bucher (Uni Salzburg), der für das Bildungsministerium bereits vor rund 20 Jahren die derzeit laufenden Schulversuche evaluiert hat, plädiert ebenfalls für Ethik als Pflichtgegenstand – und zwar nicht nur in der Oberstufe. "Mit 15, 16 Jahren sind viele ethische Einstellungen schon habitualisiert und lassen sich kaum mehr ändern."

Schöpfung statt Evolution

Im derzeitigen Modell gehe es nicht um grundsätzliche religiöse Bildung, sondern um "partikulare Eigeninteressen" der einzelnen Glaubensgemeinschaften. Mittlerweile gebe es 14 verschiedene Religionsunterrichte in Österreich – bis hin zu Freikirchen: "Ich habe mir dort die Lehrpläne angesehen: Dort ist nirgendwo von Evolution die Rede, sondern nur von biblischer Schöpfungsgeschichte." Als Vorbild könnte laut Bucher die Innerschweiz dienen: Dort hätten sich staatliche und Religionsvertreter zusammengesetzt, überlegt, was Schüler über die einzelnen Religionen wissen müssten, und einen gemeinsamen Unterricht aufgesetzt. Auch die katholische Kirche müsse davor keine Angst haben, meint Bucher: "Der faktische Religionsunterricht ist längst nicht mehr so konfessionell, wie es sich viele Bischöfe wünschen würden."

Der Klubchef der Wiener Neos, Christoph Wiederkehr, fordert eine Erhebung, wie viele Schüler tatsächlich keinen Religionsunterricht besuchen. Derzeit gebe es dazu kaum Zahlen – klar sei aber, dass diese steigen. "Es ist keine gute Tendenz, wenn eine Minderheit im Regelunterricht ist."

Diversität abbilden

Lena Jäger, Mitinitiatorin des Frauenvolksbegehrens, ortet wachsende Diversität in ganz Österreich. "Die Schule braucht daher einen Raum, wo Kommunikation mit dieser Diversität geübt werden kann. Und Ethikunterricht wäre dafür der perfekte Raum." Das könne aber nur funktionieren, wenn alle an diesem Unterricht teilnehmen. Die Vorsitzende der SP-nahen Aktion kritischer SchülerInnen (AKS), Sara Velic, vermisst wiederum einen Unterricht, der sich auch kritisch mit Religion auseinandersetzt.

Über die Erfolgsaussichten der Forderungen machen sich weder Reif noch Bucher Illusionen. "Es wäre töricht zu glauben, dass unter dieser Regierung Ethik für alle kommt – da kommt eher das Jüngste Gericht", so Reif. Er setzt auf den Faktor Zeit: "Wenn der Religionsunterricht die Ethik blockiert, ist die Zeit gekommen, über die Legitimität des Religionsunterrichts zu sprechen. Auch wenn das nicht morgen sein wird oder übermorgen." Demnächst könnte es eine Beschwerde gegen das derzeitige Modell des Ersatzunterrichts für Religionsverweigerer geben.

Dass Ethikunterricht nicht schon in der Unterstufe beginnt, sorgt für Kritik. "Die Gesellschaft hat wesentlich früher die Verantwortung, da etwas zu tun", betont Andrea Pinz vom Schulamt der Erzdiözese Wien. "Spätestens ab der Sekundarstufe I – da kann das Zusammenleben noch leichter gestaltet werden."

Immer mehr Abmeldungen

"Das höchste Ziel ist ein verantwortungsvolles Handeln", fasst Georg Gauß von der Bundesarbeitsgemeinschaft Ethik das Ziel von Ethikunterricht zusammen. Gegenüber dem Religionsunterricht habe er "den Vorteil, dass er konfessionsfrei ist und von verschiedenen Kirchen und Religionsgemeinschaften, Atheisten und Agnostikern gleichermaßen wahrgenommen werden kann". Ethikunterricht stelle so einen "Mikrokosmos" der Gesellschaft dar, etwas, was der konfessionelle Religionsunterricht nicht bieten könne. Einziger Nachteil: Der Ethik würden "die Feiertage fehlen", die Teil der Religion sind. Dass das Besuchen des Ethikunterrichts die Abmeldung vom Religionsunterricht voraussetze, sei "schon fast diskriminierend". Dabei spreche die steigende Zahl der Abmeldungen vom Religionsunterricht eine klare Sprache.

Diesen Vorwurf weist Pinz entschieden zurück. Ethik und Religion seien oft deckungsgleich, Religion dürfe nicht von den Lehrplänen verschwinden. "Religion schließt Ethik ein, ist aber immer mehr als Ethik. Dieses Mehr der Religion ist ganz entscheidend für die Gesellschaft." Die religiöse Erziehung nicht außerhalb des öffentlichen Raumes zu gestalten beuge Fundamentalismus vor. "Religion ist ein wichtiger Teil des Menschen. Dass diese Auseinandersetzung in Hinterhöfen und hinter verschlossenen Türen geschieht, kann nicht das Ziel der Gesellschaft sein." Das Christentum habe die europäische Geisteshaltung stark geprägt und sei deshalb auch aus dem ethischen Diskurs nicht wegzudenken.

"Man sollte kein künstliches Gegeneinander hochstilisieren", fordert Michael-Albert Jahn vom Institut für Philosophie der Universität Wien. Es sei "im wahrsten Sinne des Wortes unethisch", wenn man den Religionsunterricht in eine Nische am Nachmittag verschieben würde. Große Teile der gläubigen Bevölkerung, besonders in ländlichen Gebieten, würden so entwurzelt werden. Menschenrechte und der humanistische Gedanke müssten das gemeinsame Ziel der beiden Fächer sein. (APA, 29.1.2019)