So alltäglich sich der Begriff Erinnerung für uns anhört, so umstritten ist er in der wissenschaftlichen Community. Einigkeit besteht darin, dass als Erinnerungen vergangene Erfahrungen bezeichnet werden, die je nach Situation und Umgebung immer wieder ein bisschen anders erzählt, erinnert und (wieder)erlebt werden. Der Prozess des Erinnerns kann aktiv passieren oder passiv durch etwas ausgelöst werden. Erinnerungen enthalten neben Bildern und Szenen auch ein großes Repertoire an Gerüchen, Empfindungen und Gefühlen. Durch seine sinnliche Komponente erzeugt Essen Erinnerungen, die eben nicht bloß kognitiver, sondern auch emotionaler und körperlicher Art sind.

Mit dem Essen ist somit ein reichhaltiger Vorrat verschiedenster Formen des Erinnerns verbunden. Das reicht vom sehr persönlichen Erlebnis, wie Omas wunderbarem Geburtstagskuchen in der Kindheit, bis zu gemeinsam erinnerten, kulturell geteilten Erfahrungen, wie dem spezifischen Hungeressen in der Nachkriegszeit. Somit können Erinnerungen soziale Beziehungen, aber auch die Identitäten von ganzen Generationen mitprägen.

Aber was ist der Zweck kulinarischer Erinnerungen? Und wie hängen Essen und Erinnerung zusammen, und wie beeinflussen sie unser tägliches Handeln?

Nostalgische Kindheitserinnerungen

Um diese Frage beantworten zu können, muss zuallererst untersucht werden, zu welchem Zweck die Vergangenheit in Erinnerung gerufen wird. So werden etwa im persönlichen Bereich Erinnerungen an Speisen aus der Kindheit bewusst oder unbewusst abgerufen, um in der Gegenwart meist positive Gefühle wieder zu erleben. Mit dem banalen Wurstsemmerl im Freibad werden Emotionen der Kindheit erweckt – Sommer, Ferien, Freiheit – die erste große Liebe, mit der es geteilt wurde. Dieses Phänomen kann im Social-Media-Zeitalter interessante Formen annehmen. So wurde beispielsweise das Tschisi-Eis in Käseform, das zwischen 1990 und 1999 produziert wurde, im Jahr 2013 nach einer Facebook-Petition mit 88.000 Unterstützern wieder eingeführt. Mit Originalgeschmack, aber ohne die typischen Käselöcher. Manch Erwachsener wurde nach dem Genuss aber enttäuscht: Zu süß, zu künstlich sei der Geschmack und würde sich nicht mit dem aus der Kindheit decken.

Die Erinnerung ist gerade im Bereich Essen sehr selektiv, und bestimmte Situationen werden im Nachhinein geschönt oder romantisiert. Das angenehme Gefühl, als Mama ein bestimmtes Fruchtjoghurt oder Soletti mit Cola ans Krankenbett brachte, überlagert hierbei in der Erinnerung Schmerz und Unwohlsein. Dies kann zu Nostalgie führen, wo den "guten alten Zeiten" nachgetrauert und negative Bereiche ausgeblendet werden.

Omas Strudel oder Kuchen erinnert einen vielleicht an Geburtstage in der Kindheit.
Foto: istockphoto.com/at/portfolio/Halfpoint

Aber auch das Ersehnen einer Vergangenheit, die selbst nie erfahren wurde, kann einen Einfluss auf unsere gegenwärtigen Handlungen haben. Gerade im Konsumbereich wird diese Form der Nostalgie geschickt als Marketingstrategie eingesetzt, indem Begriffe aus der Vergangenheit verwendet werden oder die spezielle traditionelle Herstellungsweise eines Produktes hervorgehoben wird. In Österreich erlebt diese Vorgehensweise gerade einen Boom: Wir sehen in TV-Spots Sennerinnen beim Käsemachen, essen Joghurt aus Glasbehältern „wie damals“ oder produzieren unser eigenes Mehl mit Getreidemühlen, die aus dem 19. Jahrhundert stammen könnten.

Erfundene Traditionen

Auch das Phänomen der sogenannten "erfundenen Traditionen" ist im Zusammenhang mit kulinarischen Erinnerungen interessant. Dieses mittlerweile schon klassische Konzept der beiden Historiker Eric Hobsbawm und Terence Ranger¹ zeigt, dass scheinbar in der Vergangenheit fest verankerte Traditionen oftmals gar nicht so weit zurückreichen, sondern sich erst vor kurzem entwickelt haben. Trotzdem verfügen sie über eine enorme Wirkung. Sie können zum Beispiel kollektive Identitäten erzeugen oder gesellschaftliche Normen und Strukturen stabilisieren. Aber wie kann eine Tradition, die, wie es scheint, über Generationen hinweg weitergegeben und etabliert wurde, "erfunden" werden? In der Welt der Ernährung gibt es viele Beispiele für dieses Paradox. So ist etwa eine ursprüngliche, sehr einfache Form der Pizza (Brotteig mit Tomatensauce) mit italienischen Einwanderern in die USA gekommen und wurde erst dort mit Käse, Oliven, Paprika und diversem Fleisch garniert und damit stark verändert. Danach gelangte sie wieder nach Italien zurück, wo sie zur bekanntesten traditionellen Speise der italienischen Küche avancierte und in der ganzen Welt als solche betrachtet und vermarktet wird.

Herstellung und Bewahrung einer gemeinsamen Identität

Essen kann aber auch zur Etablierung von nationalen Identitäten beitragen. Ein besonders schönes Beispiel dafür stammt von dem Anthropologen Richard Wilk². In seiner Untersuchung zeigt er, wie die Konstruktion der Nation Belize nach der Erlangung der Unabhängigkeit von Großbritannien mit der Wiederentdeckung einer lokalen Küche Hand in Hand ging. Gerade bei Migranten und Vertriebenen kann das kulturspezifische Einkaufen, Zubereiten und Einnehmen von Gerichten Erfahrungen und Emotionen einer Zeit hervorrufen, in denen die Identitäten dieser Menschen noch nicht zerrissen waren und damit ein Gefühl von Sicherheit und Zugehörigkeit schaffen. In diesem Zusammenhang zeigt eine Studie mit älteren koreanischen Einwanderern, dass diese nach Jahren in der japanischen Emigration das scharfe koreanische Essen nicht mehr richtig verdauen konnten. Dies löste bei ihnen Zweifel an ihrer koreanischen Identität aus und wurde als moralische Verfehlung ihrem Heimatland gegenüber betrachtet.

Wie aus den obigen Ausführungen klar wird, bewegen sich Ernährungsthemen immer zwischen dem Intimen und dem Öffentlichen, dem Individuellen und dem Kollektiven. Das darin liegende Potential, diese Ebenen miteinander zu verbinden, macht es auch für die Zukunft zu einem der spannendsten sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsgebiete. (Simone Schumann, 4.2.2019)

Simone Schumann ist Sozialwissenschaftlerin und beschäftigt sich als
Projektleiterin bei Open Science hauptsächlich mit den sozialen und
ethischen Aspekten neuer technowissenschaftlicher Entwicklungen. Sie ist eine der Bloggerinnen, die als "bESSERwisser" die Beiträge für den Hungry-for-Science-Blog von Open Science verfassen.

Mehr Beiträge finden Sie auf hungryforscience.at.

¹ Hobsbawm E. and Ranger T.: The Invention of Tradition (1983). Cambridge: Cambridge University Press.

² Wilk R.: ‘Real Belizian food’: Building local identity in the transnational Caribbean (1999). American Anthropologist, 101(2), 244-255.

Literaturhinweise

  • Holtzman JD: Food and Memory (2006). The Annual Review of Anthropology, 35, 361-378.
  • Sutton D.: Remembrance of Repasts. An Anthropology of Food and Memory (2001). New York: Berg Publishing.

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