Wien/Klosterneuburg – Biologen haben gezeigt, dass sie weniger über die Entwicklung von Fliegenembryos wissen als sie glaubten. Alle Modelle, die sich auf Versuche und mechanistische Hypothesen stützen, sind ungenauer als eines, das nur vier "verrauschte" Signale beschreibt, berichtet ein Forscherteam mit österreichischer Beteiligung im Fachblatt "Cell". Die Natur habe das System freilich penibel mathematisch optimiert.

Die Ausgangslage

In einem Fliegenembryo, der von der äußeren Form am ehesten einer Zigarre ähnelt, sind alle Zellen zunächst unförmig und ohne spezielle Funktion, so die Forscher um Thomas Gregor von der Princeton University (USA). Dann werden entlang der Längsachse vier Positionsgene (die "Gap Gene") eingeschaltet. Schritt für Schritt folgen weitere Gene mit immer höherer räumlicher Auflösung. Bisher nahm man an, dass das Signal dadurch immer mehr verfeinert wird, bis jede Zelle ihren genauen räumlichen Standpunkt innerhalb des Embryos kennt und weiß, welche "Berufslaufbahn" sie einschlagen muss. Doch das kann so nicht stimmen, berechneten die Wissenschafter.

"Die Signale, die die Zellen über ihre Position empfangen, sind dazu viel zu verrauscht", erklärte Gašper Tkačik vom Institute of Science and Technology (IST) Austria: "Die Gap-Mengen schwanken nämlich mit der Zeit und zwischen den Embryos." Dass einzelne Zellen daraus ihre exakte Position ermitteln können, sei physikalisch unmöglich.

Decoder im Einsatz

Die Forscher maßen die Gap-Niveaus in den Embryos so genau wie möglich und erstellten aus den Daten einen Decoder, der nichts anderes tun sollte, als die Messwerte optimal wiederzugeben. Sie ließen diesen Entschlüssler berechnen, was passiert, wenn eines der vier Gap-Gene fehlt und verglichen seine Vorhersage mit dem Laborbefund, wie solch ein Embryo tatsächlich aussieht. "Der Decoder sagte mit einer Genauigkeit von 99 Prozent korrekt vorher, wie das Muster in mutierten Embryonen verzerrt wird", berichten sie.

Ohne den Mechanismus zu kennen, wie Zellen ihre Position bestimmen, konnten die Forscher also unter der bloßen Annahme, dass dies optimal geschieht, den Prozess genauestens nachvollziehen. "Modelle, die Daten nach einem vermuteten Mechanismus anpassen, benötigen viel mehr Parameter, schneiden aber schlechter ab", so Tkačik. Dies zeige, dass man den Mechanismus nicht wirklich versteht, und dass die Lehrbuchmeinung, dass die frühen Signale langsam über mehrere Schichten eines Netzwerks verfeinert werden, infrage zu stellen ist. Der US-Biologe Eric Wieschaus und die deutsche Forscherin Christiane Nüsslein-Volhard bekamen 1995 für das Entdeckung dieser Musterbildung den Medizin-Nobelpreis. Wieschaus ist an der aktuellen Studie beteiligt, die diese Befunde nun relativiert.

Nahe am Optimum

"Bereits im frühesten Schritt der Abfolge, nämlich bei den Gap-Genen, gibt es genügend Informationen, um alle Zellen präzise zu positionieren", meint Tkačik. Möglicherweise können die einzelnen Zellen diese aber nicht erkennen und brauchen die Folgeschritte zum Übersetzen, damit sie sich zuverlässig zu einem bestimmten Typus entwickeln. Die Natur habe jedenfalls das System so stark optimiert, dass – wie auch immer nun der Mechanismus dahinter funktioniert – die molekularen Vorgänge sehr nahe am mathematischen Optimum arbeiten. (APA, 3. 2. 2019)