Claus-Steffen Mahnkopf, "Philosophie des Orgasmus". € 12,40 / 245 Seiten. Suhrkamp-Verlag, 2019

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Aus dem Staunen erwächst die Philosophie. Claus-Steffen Mahnkopf staunt über den "schönsten Augenblick, den die Sexualität uns schenkt", und wendet sich einem physiologischen Phänomen zu, das bisher nicht Gegenstand philosophischer Betrachtungen war. Seine Philosophie des Orgasmus (Suhrkamp, Berlin 2019) ist zugleich eine "aktualisierte" Anweisung zum seligen Leben.

STANDARD: Herr Mahnkopf, Ihre "Philosophie des Orgasmus" liest sich über weite Strecken wie ein Hymnus auf den Orgasmus, insbesondere den weiblichen Orgasmus. War das Ihre Absicht?

Claus-Steffen Mahnkopf: Ja, der Orgasmus ist der schönste Augenblick in der Erkundung des eigenen Körpers und in der Begegnung zweier Liebender. Diesem Phänomen wollte ich auf den Grund gehen. Dabei steht für mich das emphatische Erleben im Vordergrund, so wie auch die Philosophie einem emphatischen Wahrheitsbegriff verpflichtet ist. Im Verlauf meiner Recherchen erkannte ich immer deutlicher, wie sehr der weibliche Orgasmus dem männlichen überlegen ist. Frauen sprechen wesentlich assoziationsreicher über ihn als Männer.

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STANDARD: Sie fordern denn auch eine Feminisierung des Orgasmus. Aber was wäre damit gewonnen?

Mahnkopf: Zunächst übt eine geänderte Betrachtung des Orgasmus Einfluss darauf aus, wie wir über ihn denken und sprechen, mit welcher Einstellung, welchen Erwartungen und Selbstbestätigungsbildern das sexuelle Erleben erfahren wird. Nach wie vor ist das Standardbild der männliche Orgasmus. Der weibliche war bis vor einigen Jahrzehnten die Ausnahme. Mittlerweile wissen wir es besser. Eine Leerstelle bleibt dennoch: Man denkt an ein relativ schnelles finales Ereignis, das erreicht wird. Aber das Wesen des Orgasmus ist weiblich. Der weibliche Orgasmus ist komplizierter als der männliche. Er ist anspruchsvoller, komplexer und emotionaler, gerade weil ihm keine biologische Funktion zukommt. Er ist Lust um der Lust willen. Eine Feminisierung des männlichen Orgasmus bedeutet, diesen vom Animalischen und von den Vorstellungen von Macht und Potenz zu befreien.

STANDARD: Sie plädieren sogar dafür, "das ungeteilte und vollumfängliche Recht auf den schönsten Augenblick" in die Menschenrechtscharta aufzunehmen. Aber lässt sich das Glück sexueller Erfüllung per Gesetz verordnen?

Mahnkopf: So ist das nicht gemeint. Dahinter steht die Forderung, dass Staaten in ihren Rechtssystemen eine Situation schaffen, in der die Menschen überhaupt in der Lage sind, ihre Sexualität frei zu leben. Eine Entrechtung der Frau zum Beispiel führt zu einer solchen Einschränkung im Privatleben, dass sie sich in ihrem emotionalen und sexuellen Erleben nicht entfalten kann.

STANDARD: Wie erklären Sie sich diese Angst vor der Sexualität? Stellt sie tatsächlich eine derartige Kraft dar, dass Staaten und Kirchen sie fürchten müssen?

Mahnkopf: Die Sexualität ist unser tierisches Erbe. Sie ist übermächtig im menschlichen Leben. So ist es extrem schwierig, sie zu domestizieren, auch wenn das immer wieder versucht wird. Man stelle sich vor, wie es wäre, wenn alle sich innerhalb einer Woche fortpflanzten und dann Ruhe wäre. Das Leben würde ruhig, aber auch sehr langweilig werden. Wir hätten wahrscheinlich keine Kultur, weder Literatur noch Kunst oder Musik. Dass allerdings gerade die Religionen derart massiv in eine Sexualethik eingreifen, ist ein Anachronismus und bleibt mir unfassbar.

STANDARD: Sie räumen der Biologie in Ihrem Buch einen breiten Raum ein, während Sie der psychologischen Perspektive wenig Gewicht beimessen. Warum?

Mahnkopf: Nehmen Sie ein klassisches Universitätslehrbuch der Emotionspsychologie, für Studierende geschrieben. Der Orgasmus kommt darin nicht vor. Das Thema Orgasmus wird in der wissenschaftlichen Literatur entweder natur- oder kulturwissenschaftlich abgehandelt. Eine philosophische Betrachtung verlangt jedoch, beide Aspekte zusammenzudenken. Überraschenderweise habe ich bei all meinen Recherchen das meiste über den Orgasmus aus Erlebnisberichten von Frauen gelernt, viel mehr als aus der wissenschaftlichen Literatur und der Belletristik.

STANDARD: Da wurden Sie bei Ihrer Suche ja ziemlich enttäuscht, trotz "detektivischer Recherche". Ist aber das Feld der Literatur nicht eher das Misslingen und Scheitern?

Mahnkopf: Also wenn die erzählfreudigsten und sprachmächtigsten Menschen der Welt, die Literatur schreiben, nicht in der Lage sind, auch das Gelingen darzustellen, lässt das tief blicken. Ich erwarte von Schriftstellern, dass sie eine Sprache und Ausführlichkeit finden, um zur Anschauung zu bringen, was eine Person erlebt, und dabei das Wesen dieser Erfahrung zu treffen. Auch für das Namenlose und Undarstellbare müssen sie sprachliche Mittel schaffen. Einige Beispiele finden sich, wie etwa in James Joyce' Ulysses oder Im Schatten junger Mädchenblüte, dem zweiten Teil von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Eine Ernüchterung aber hat sich bei mir schon eingestellt.

STANDARD: In der Musik fällt Ihre Ausbeute ebenfalls nicht immens aus ...

Mahnkopf: Natürlich kann die Kunst nicht eins zu eins abbilden. Das wäre sonst klangliche Pornografie. Auf raffinierte Weise hat Richard Wagner in seiner Venusbergmusik aus dem Tannhäuser in der Pariser Fassung die Psychologie auskomponiert. Mit der romantischen Sprache, die er Mitte des 19. Jahrhunderts hatte, gibt er in drei großen Steigerungswellen eine musikalische Darstellung der Erregungsphase, des Orgasmus und der darauffolgenden Melancholie. Ob eine dermaßen emotionale Darstellung mit den heutigen klanglichen Mitteln noch möglich ist, muss sich erst zeigen.

STANDARD: Nun sind Sie selbst Komponist. Haben Sie sich denn kompositorisch mit dem Thema Orgasmus auseinandergesetzt?

Mahnkopf: Ich arbeite in der Tat an einem Orchesterstück. Es soll den Titel "O" tragen, eine Anspielung auf Heinrich von Kleists Novelle Die Marquise von O.... Darin zeichne ich mit zeitgenössischen musikalischen Mitteln einen Orgasmus nach, allerdings mit einer Überraschung am Ende.

STANDARD: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass auch die Philosophie den Orgasmus bisher vernachlässigt hat?

Mahnkopf: Auf die Idee, dieses Buch zu schreiben, kam ich bereits vor zehn Jahren. Als ich feststellte, dass es keine philosophische Arbeit zum Thema Orgasmus gibt, hörte ich mich in Philosophenkreisen um. Aber alle, die ich fragte, gaben mir zu verstehen, dass sie sich dazu auch nicht äußern wollen. Eine Erklärung dafür ist Scham. Zum anderen hängt diese Verweigerung auch mit der Negativphilosophie zusammen. Infolge der Großkatastrophen im 20. Jahrhundert setzte sich in der Philosophie ein negatives Denken durch. Zweifel, Kritik und Destruktion traten in den Vordergrund. Vor dem Prinzip des Bejahens entwickelten die Philosophen eine Scheu. Der Orgasmus aber ist nicht nur Affirmation, sondern die Affirmation der Affirmation. Über ihn zu schreiben bedeutet ein Bekenntnis zur Positivität. So habe ich mich als philosophischer Außenseiter diesem Thema zugewandt. Für mich liegt gerade im Orgasmus ein Weg, zentrale Fragen der Philosophie zu veranschaulichen wie die Einheit von Leib und Seele, die Berührung von Leben und Tod oder die Selbsttranszendierung des Ichs.

STANDARD: Mehrfach verweisen Sie auf den 1995 verstorbenen Philosophen Emmanuel Lévinas, dessen Werk sich mit der Frage nach der Verantwortung für den Anderen befasst. Müsste er wiederentdeckt werden?

Mahnkopf: Lévinas' Texte sind dunkel und schwer zu lesen. Aber sie sind nicht vergessen. Auch hat er Spuren bei anderen Philosophen hinterlassen, die bekannter sind als er. Seine Idee, jemanden von Antlitz zu Antlitz gegenüberzutreten, ist in seiner Radikalität ein Gedanke, den man nicht nur begreifen, sondern auch leben lernen muss. Im Geschlechtsakt findet diese emphatische Begegnung statt.

STANDARD: Zeigt aber nicht gerade das Werk von Lévinas, dass die Philosophie sich nicht explizit zu einem Thema äußern muss, um dazu etwas beizutragen?

Mahnkopf: Nein. Es ist bei Lévinas keineswegs alles gesagt. Sie können aus dem Lévinas'schen Programm nichts darüber erfahren, warum es den Orgasmus in dieser Gefühlsintensität überhaupt gibt. Die Natur hat uns mit diesem gefühlsstarken Erlebnismoment ausgestattet, der für den biologischen Vorgang der Paarung nicht notwendig wäre. Sie zwingt uns damit, ständig an Sex zu denken. Dafür muss es in der Evolution doch einen Grund geben.

STANDARD: Aus der Sexualität und ihrer Verbindung der drei Bereiche Geist, Seele und Körper entwerfen Sie eine Philosophie des "guten Lebens". Ist uns die Vorstellung abhandengekommen, was ein gutes Leben wirklich ausmacht?

Mahnkopf: Am Anfang seiner "Reflexionen aus dem beschädigten Leben" Minima Moralia beklagt Theodor W. Adorno in den 1940er-Jahren genau das. Er wirft den Philosophen vor, sich immer mehr zu spezialisieren und um alles Mögliche zu kümmern, aber das Wesentliche zu versäumen, das Johann Gottlieb Fichte das selige Leben nannte. Die Frage nach dem guten Leben und danach, was es auszeichnet, muss immer wieder neu gestellt werden. In einer Demokratie wird sie als Privatsache betrachtet. Gespräche darüber werden vermieden, weil man den Menschen nichts auferlegen oder gar normativ verordnen will. Aber wir sollten darüber in einen Diskurs treten und auf die Frage, welcher Ort dem Orgasmus im Entwurf eines guten Lebens zukommt, philosophische Antworten finden. (Ruth Renée Reif, 2.2.2019)