Wien 1954: Heinrich (Katharina Klar) kämpft gegen die Aggressionen, die noch in den Köpfen der Wiener Bevölkerung toben

Christine Miess / Volkstheater

Im Jahr 1954, kurz bevor die Alliierten Österreich verlassen, tobt der Krieg im Inneren der Wiener Bevölkerung weiter. Einer, der das ändern will, ist Heinrich, der Watschenmann. Er lässt sich auf der Straße öffentlich schlagen, weil er den Leuten ihre Aggressionen austreiben will. Erst wenn sie ihn wirklich verdreschen, ist ihnen geholfen, glaubt Heinrich.

Bérénice Hebenstreit hat den großartigen Roman Watschenmann (2014) von Karin Peschka im Volx/Margareten uraufgeführt. Er erzählt von den verfestigten Traumata der Wiener Nachkriegsgesellschaft, die in alltäglicher Gewalt ihren schlimmsten Ausdruck findet. Heinrich (Katharina Klar) ist ein vermeintlich Verrückter, der in seinem Wahnsinn mehr von der Welt versteht, als die anderen zugeben wollen. Er denkt sich Regeln aus, die seine Berufung zur Kunst werden lassen. Er will der beste Watschenmann Wiens sein.

Nicht zu schmutzig und nicht zu sauber darf er sein. Vor allem weiß Heinrich, dass er gedanklich woanders sein muss, wenn seinem mageren Körper auf offener Straße die Knochen gebrochen werden. Heinrich berauscht sich regelrecht an den Tritten und Schlägen. Wie das Katharina Klar spielt, ist großartig: Sie rotiert wie ein Derwisch durch die Straßen und wirft sich ihren Mitmenschen – stellvertretend für all die Randfiguren der Gesellschaft – zum Fraß vor.

Geige spielt Wahnsinn

Hebenstreit dekonstruiert nüchtern den Mythos der "Stunde null" nach dem Krieg. Die rohe Gewalt bleibt auf der Bühne zum Glück ausgespart. Eine Geige spielt den Wahnsinn mit schrillen Tönen. Das Podest, auf dem Geigerin Hristina Susak steht, ist mit Mikrofonen versehen, die ihre Tritte in dumpfe Schläge verwandelt.

Stimmen aus dem Off kommentieren und versuchen Antworten auf die bizarre Figur Heinrichs zu geben. Sie beschreiben das, was man eigentlich im Spiel zwischen den Charakteren erkennen sollte. Vor allem Heinrichs Ersatzeltern verlieren dadurch ihre Ambivalenzen: Lydia (Birgit Stöger) ist die Böse, Dragan (Rainer Galke) der Gute.

Ebenso holzschnittartig und alleingelassen bleibt der amerikanische Soldat (Sebastian Klein), der jeden Augenblick in eine andere seiner vier Rollen schlüpfen muss. Als Zuschauer ist man gut damit beschäftigt, die einzelnen Szenen einzuordnen: Wer spielt hier eigentlich gerade wen? In welchem Winkel Wiens befinden sich die Protagonisten?

Das Haus aus durchsichtigem Stoff, das von der Decke hängt und die prekäre Baracke von Heinrich, Lydia und Dragan symbolisiert, taugt nicht dazu, die unterschiedlichen Orte der Geschichte darzustellen. Deshalb weichen die Darsteller auf die Seitengänge und den Balkon aus. Das sprengt das Raumgefühl. Allerdings gelingt es Hebenstreit, trotz der Brutalität des Stoffes Motive wie Heilung und Hoffnung aufblitzen zu lassen. Doch diese Lichtblicke sind nicht von dieser Welt – sondern von jener, in die uns der Watschenmann entführen will, wenn er dem Publikum seine grüne Zunge zeigt. (Laurin Lorenz, 02.02.2018)