Francis Fukuyama in seinem kleinen Denkerstübchen an der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien.

Foto: Christoph Prantner

Das Zimmer ist drei Schritte breit und sechs Schritte lang. Zwischen Schreibtisch, einer beengten Besprechungsecke und überquellenden Bücherregalen findet sich kaum Platz zum Stehen. Trotzdem geht es in dieser kleinen Kammer um nichts weniger als das Große und Ganze. Um "the big picture", wie die Amerikaner sagen: den großen Bogen, das umfassende Welterklärungsmodell, ein ordnendes Konzept für unsere unübersichtlichen Zeiten.

Freeman Spogli Institute, Stanford University, erster Stock, Raum C140. Auf dem Türschild steht: Francis Fukuyama, Director. Er ist der Mann, der es sich seit jeher erlaubt, großen Gedanken nachzugehen. Fast auf den Tag genau vor 30 Jahren hat er, damals noch als junger Analyst bei der konservativen Rand Corporation und am Sprung auf den Posten des stellvertretenden Planungsdirektors im US-Außenamt, einen aufsehenerregenden Vortrag mit dem Titel "The End of History?" an der University of Chicago gehalten.

Intellektueller Superstar

Darin behauptete er, dass sich die liberale, marktwirtschaftlich organisierte Demokratie gegen alle anderen Staats- und Wirtschaftssysteme durchgesetzt habe. Wenige Monate später implodierte der osteuropäische Staatskommunismus, bald darauf war auch die Sowjetunion Geschichte – und Fukuyama ein intellektueller Superstar. Seine These vom Ende der Geschichte wurde, viel kritisiert und oft auch leichtfertig missverstanden, zu einem ideengeschichtlichen Schlüsselsatz der Ära nach dem Ende des Kalten Krieges.

Nun hat der 66-Jährige wieder ein Buch vorgelegt, das er am Donnerstagabend auch in Wien vorstellt. Und wieder will er aufs Ganze gehen. In "Identität" will der Politologe erklären, warum unsere Gesellschaften heute allesamt so gespalten sind und die liberalen Demokratien neuerdings in argen Schwierigkeiten stecken. DER STANDARD hat ihn in Palo Alto, Kalifornien, zum Interview getroffen. Fukuyama beginnt es mit einem Verweis auf die Wahl Donald J. Trumps zum US-Präsidenten, ohne die er "Identität" nie geschrieben hätte:

Francis Fukuyama: Donald Trump repräsentiert den herausragenden Fall eines globalisierten Populismus. Er steht für einen Teil der Wähler, die derart zornig auf die Eliten sind, dass sie dadurch die Balance der Institutionen in vielen Demokratien bedrohen. Trump beschuldigt etwa einen "tiefen Staat" in den USA, den Volkswillen zu hintertreiben. Tatsächlich geht es dabei um Rechtsstaatlichkeit und Institutionen, die politische Führer einhegen sollen. Aber Populisten sind ungeduldig. Für sie ist das herrschende System nicht legitim. Und deswegen sind sie eine schwerwiegende Bedrohung für die Demokratie – nicht für Wahlen und den darin ausgedrückten Willen des Volkes, wohlgemerkt, sondern vielmehr für Rechtsstaatlichkeit und das institutionelle Gefüge, die wir als wesentlich für moderne liberale Demokratien ansehen.

STANDARD: Liberale Demokratien, deren Siegeszug Sie vor 30 Jahren vorausgesagt haben, sind heute tatsächlich weltweit in der Defensive. Wir sehen allenthalben autoritäre Führer und digitalisierte Diktaturen. Wie konnte das passieren?

Fukuyama: Der Trend in diesen 30 Jahren war über weite Strecken ja sehr positiv. Die sogenannte Dritte Welle der Demokratie begann schon in den 1970er Jahren in Spanien, Portugal und Griechenland. Sie hat sich in Lateinamerika und Asien verbreitet und ist gewissermaßen im Kollaps des Kommunismus kulminiert. Aus nur 35 Demokratien auf der Welt sind zu Beginn des neuen Jahrtausends ungefähr 120 geworden. Im letzten Jahrzehnt allerdings gab es Rückschritte. Wir sehen den Aufstieg selbstbewusster autoritärer Staaten wie China und Russland, die den Westen von außen herausfordern. Viel gefährlicher aber ist die interne Herausforderung: nämlich, dass Wähler innerhalb von Demokratien sich vom demokratischen System abwenden. Ich würde die Zukunft der Demokratie dennoch nicht pessimistisch sehen. Auch wenn es in Europa viele populistische Bewegungen gibt – inklusive in Ihrem Land – gibt es noch Strukturen, die das Schlimmste verhindern. Zudem schadet populistische Politik den Wählern. Das sehen wir derzeit beim Brexit. Je näher wir an einen chaotischen EU-Austritt kommen, desto eher realisieren viele, dass dies ein komplettes Desaster für Großbritannien werden wird. Sicher, dieser populistische Trend wird eine Weile fortdauern und viel Schaden anrichten, aber dabei wird die Demokratie nicht von einer anderen Regierungsform abgelöst werden. Ich jedenfalls kann nicht erkennen, was diese Alternative langfristig sein könnte.

STANDARD: Das impliziert, dass alle Wähler mündige, umfassend informierte Bürger sind. In Zeiten von Fake News und Filterblasen könnte man dies bestreiten, oder?

Fukuyama: Was wir sehen, ist der Missbrauch des Internets als Waffe. Als es eingeführt wurde, dachte jeder, dass es gut für die Demokratie sein werde, weil es auch einfachen Bürgern den Zugang zu Informationen erleichtert. Bösartige Akteure benutzen das heute. Die Chinesen haben ein Sozialkreditsystem eingeführt, das eine lückenlose Kontrolle ihrer Bürger zulässt. Die Russen haben das Internet als Waffe im geopolitischen Kampf eingesetzt. In den USA und anderen Staaten hat es die Polarisierung verstärkt. Wir beginnen erst damit, dieses Phänomen zu verstehen – und die Probleme, die daraus erwachsen.

STANDARD: Eine mittels Daten und künstlicher Intelligenz gesteuerte Welt und eine freie Gesellschaft widersprechen sich nicht?

Fukuyama: Das Internet hat gute und schlechte Seiten. Im Vergleich mit der Zeit vor 30 Jahren haben einfache Menschen heute viel mehr Zugriff zu Informationen. Sie können sich damit auch organisieren – siehe Iran, Ägypten oder Ukraine. Die Technologie kann den demokratisch gesinnten Menschen helfen, aber gleichzeitig eben auch als Waffe missbraucht werden. Wir müssen jetzt herausfinden, wie wir uns dagegen wehren können.

STANDARD: Die Grundannahme des Westens ist, dass es keinen echten Fortschritt und keine Prosperität gibt ohne individuelle Freiheit. Mit Blick auf China oder Singapur zum Beispiel – gilt das heute noch?

Fukuyama: China ist die größte Herausforderung in diesem Zusammenhang. Die Theorie war, dass mit der Zunahme von Wohlstand, Bildung und urbanem Lebensstil sich dort auch eine Mittelschicht entwickeln würde, die ein größeres Interesse an politischer Partizipation und persönlicher Freiheit hat. Das ist in China tatsächlich passiert. Die chinesische Mittelschicht stöhnt unter dem harten Regierungsstil von Präsident Xi Jinping. Andererseits ist sie froh, dass das Land stabil ist und die Wirtschaft wächst. Die Frage ist: Wie nachhaltig ist dieses System tatsächlich? Heute erkennen viele dessen Verletzlichkeit nicht. Das Wirtschaftsmodell Chinas baut auf enormen Schuldenbergen und einer Regierung auf, die glaubt, dass sie Ressourcen besser verteilt als der Markt. Viele Chinesen wollen vielleicht nicht mehr Demokratie, aber mit Sicherheit mehr persönliche Freiheit. Sie sind verärgert, dass sie diese von der Regierung nicht bekommen. Die China-Geschichte ist noch nicht zu Ende geschrieben.

STANDARD: Hat China ein politisches Modell gefunden, das mit jenen des Westens konkurrieren kann?

Fukuyama: Ich bin mir nicht sicher, ob man die Erfolgsgeschichte außerhalb Chinas duplizieren kann. Dazu brauchte es eine sehr disziplinierte Kommunistische Partei, eine lange Tradition einer hochqualitativen Bürokratie, einen zentralisierten Staat – die meisten Länder auf der Welt haben diese Ressourcen nicht, dennoch lassen sie sich von China inspirieren. Vor allem jene, die der Demokratie gegenüber nicht freundlich gesinnt sind.

STANDARD: Haben die Probleme der Demokratien nicht auch damit zu tun, dass der Westen selbst nicht mehr weiß, wofür er steht?

Fukuyama: Ein Grund für den Verlust der Selbstsicherheit des Westens ist, dass dessen Eliten große Fehler gemacht haben. In den USA waren das der Irak-Krieg 2003, der ein außenpolitisches Desaster war, und die Finanzkrise von 2008, die die Legitimität des US-geprägten Kapitalismus unterminiert hat. In Europa waren es die Euro- und die Migrationskrise. Es gibt Gründe für den Zorn der Menschen. Der Neoliberalismus ging zu weit, zu viel Ungleichheit wurde aufgebaut. Die Politik muss sich dem stellen.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die treibende Kraft für den Populismus das Gefühl vieler Menschen sei, entwürdigt und ohne Anerkennung zu sein. Hat es diese Ressentiments gegen das System nicht immer schon gegeben?

Fukuyama: Nicht in diesem Ausmaß. Die Kernwählerschaft der Populisten sind überall die weniger Gebildeten und weniger Urbanen, die Älteren und Konservativeren. Diese Menschen – vor allem jene, die in ehemaligen Industriezentren in den USA und Europa leben – haben in den vergangenen Jahrzehnten unglaubliche Umwälzungen erlebt: Globalisierung, Outsourcing, ausländischen Wettbewerb, Migration. Alle diese Dinge sind neu. Noch vor 30 Jahren war ihre Lebenswelt eine völlig andere, festgefügte und relativ wohlhabende. Für Demagogen ist es in so einer Situation einfach, etwa Migranten für den Abstieg dieser Menschen verantwortlich zu machen. Warum tritt das jetzt so gehäuft auf? Wahrscheinlich, weil es eine verzögerte Reaktion auf diese langfristigen Entwicklungen ist.

STANDARD: Ist diese Situation vorübergehend und kontrollierbar, oder werden wir wieder gewalttätigen Extremismus sehen?

Fukuyama: Ich glaube, wir befinden uns in einer Periode langfristiger Turbulenzen. Die sozialen Konflikte werden schlimmer werden, und es braucht Zeit, um diese beizulegen. Erzeugt das Gewalt wie in den 1930ern? Möglich. Und das ist beängstigend. Aber von Zuständen in vergleichbaren Phasen der Instabilität im Laufe vergangener Jahrhunderte sind wir weit entfernt. Die Institutionen in den meisten Demokratien sind um vieles stärker als in den 1930er-Jahren. Daneben muss man sehen, dass auch die ökonomischen Bedingungen relativ gut sind. In der Großen Depression war das deutlich anders. Es gibt also keine Veranlassung, zu pessimistisch zu sein.

STANDARD: Sieht man auf die gegenwärtigen öffentlichen Debatten, könnte man zur gegenteiligen Meinung gelangen – allenthalben herrscht Alarmismus, rhetorisch wird Krieg ausgefochten.

Fukuyama: Viele Politiker waren wie Trump brillant darin, Ressentiments auszunützen. Aber so muss es ja nicht bleiben. Das Konzept einer nationalen Identität kann flexibel sein. Es kann so gestaltet werden, dass es Menschen eher integriert als spaltet.

STANDARD: Viele meinen, dass Bürgerlichkeit im Sinne einer Verantwortung der Einzelnen für den Staat verlorengegangen sei. Die unversöhnlichen, für die Gesellschaften so zerstörerischen Debatten entstünden, weil es diese gemeinsame Basis nicht mehr gebe.

Fukuyama: Die Gefahr kommt hier aus zwei Richtungen. Einmal von den Rechtspopulisten. Sie versuchen nationale Identität und Bürgerlichkeit ethnisch zu definieren. In modernen Demokratien ist das unmöglich, weil es einfach zu viele Menschen ausschließt. Die Linke dagegen will gar nicht über nationale Identität sprechen. Das ist für viele Linke Rassismus. Aber dazwischen gibt es einen Mittelweg: Nationale Identität ist wichtig, weil es keine Demokratie geben kann ohne eine Übereinkunft über Grundwerte, die deren Institutionen trägt und die eine Zusammenarbeit der Bürger ermöglicht. Diese Werte können nicht ethnisch oder religiös begründet sein. Sie müssen per Übereinkunft klar sein: Institutionalismus, Rechtsstaatlichkeit, die Werte der Aufklärung und dergleichen. Bürgerlichkeit und Staatsbürgerschaft sind ein Mechanismus, um Menschen in eine so definierte Gemeinschaft zu integrieren.

STANDARD: Also Nationalstaaten ohne Nationalismus gewissermaßen?

Fukuyama: Ja, so könnte man es sagen. Wenn nationale Identität eine Einigung auf Grundprinzipien bedeutet, die eine Zusammenarbeit mit Mitbürgern ermöglicht, ist diese wichtig und nötig.

STANDARD: In Deutschland gibt es dafür die Begriffe Leitkultur und Verfassungspatriotismus.

Fukuyama: Verfassungspatriotismus ist eine Minimalbedingung, Leitkultur ist eine dichtere Version davon. Der Begriff wurde von der Linken immer missverstanden und karikiert. Bassam Tibi hat ihn geprägt und dabei unter anderem Werte der Aufklärung im Sinn gehabt, ohne die es keine moderne demokratische Kultur gibt. Demokratien benötigen mehr als Verfassungspatriotismus. Nicht viel, aber eben doch.

STANDARD: Für Linke ist nationale Identität ein schwieriges Thema. Ein Fehler?

Fukuyama: Das ist ein großer Fehler. Denn die Diskussion über nationale Identität bleibt so der extremen Rechten überlassen. Ein Beispiel dafür ist Frankreich: Dort gibt es eine sehr starke Kultur der Bürgerlichkeit, die auf die Revolution zurückgeht – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Es gibt ein Ideal der Bürgerlichkeit, das nicht ethnisch ist und auf Loyalität zu Republik, Sprache und republikanischen Traditionen beruht. Aber weder die Linke noch die Mitte waren willens, diese Ideale zu verteidigen. Der Front National hat sie widerstandslos für sich vereinnahmen können.

STANDARD: Wo in Europa sehen Sie die größte ideologische Herausforderung für die liberale Demokratie? Ist es Orbán mit seinem Konzept der "illiberalen Demokratie"?

Fukuyama: Ich glaube, es ist Putin. Viel von dem, was in Westeuropa passiert ist, wurde von den Russen gesteuert. Es gibt ein gemeinsames ideologisches Element, das den Liberalismus zugunsten von konservativen Werten ablehnt. Da geht es um Religion, Familie, die Rechte von Homosexuellen und dergleichen. Daran orientiert sich die Trennlinie in Europa. Das sind Werthaltungen, die ich persönlich nicht teile, die aber keine tödliche Bedrohung für für die Demokratie sind. Auch die meisten Westeuropäer dachten vor 30 oder 40 Jahren noch so. Diese Haltungen werden erst zur Gefahr, wenn damit Institutionen angegriffen werden. Also dann, wenn es etwa heißt, die Eliten seien so verrottet, dass sie untergraben oder durch exzessive Machtkonzentration ausgeschaltet werden müssten. Das hat Orbán in Ungarn gemacht: Er hat unabhängige Medien wie Justiz ausgeschaltet und das Wahlrecht so geändert, dass Fidesz kaum je Wahlen verlieren wird. Dort fängt die Bedrohung an.

STANDARD: Und wenn Sie auf Österreich blicken, was fällt Ihnen auf?

Fukuyama: Es ist ein interessantes Experiment, das Sebastian Kurz macht. Er versucht, sich manche Themen der Rechtspopulisten anzueignen. Einiges davon ist legitim. Die Migrationskrise etwa hat große Schwächen im System in Europa aufgezeigt. Die Frage ist: Verliert Kurz die demokratischen Grundwerte in der Annäherung an die Wähler der Rechten? Das ist die Gefahr, die viele besorgt. (Christoph Prantner, 2.2.2019)