Jürgen Kriechbaum: "Man bewegt sich natürlich am Limit."

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STANDARD: Die ÖSV-Damen haben in dieser Saison fünf von sechs Abfahrten und dazu noch einen Super-G gewonnen. Nicole Schmidhofer stand in Lake Louise, Ramona Siebenhofer in Cortina d'Ampezzo zweimal ganz oben, Stephanie Venier feierte ihren ersten Weltcupsieg in Garmisch-Partenkirchen, und Schmidhofer gewann ebendort den Super-G. Kam diese beeindruckende Serie auch für Sie überraschend?

Kriechbaum: Dass so viele Abfahrten gewonnen wurden, war nicht nur für mich, sondern für alle eine Überraschung. Dass sie alle aber das Potenzial dazu haben, das haben wir vorher schon gewusst.

STANDARD: In der vergangenen Saison gab es nur zwei Speedsiege. Worauf sind die Erfolge jetzt zurückzuführen?

Kriechbaum: Erfolg ist immer von mehreren Komponenten abhängig. Gute Organisation, gute Arbeit und gutes Training sind Grundvoraussetzungen. Die Analyse von Stärken und Schwächen. Das Verhalten unmittelbar beim Wettkampf, dass man cool und gelassen bleibt. Und auch körperlich muss man top drauf sein. Ein wesentlicher Faktor neben dem Material-Set-up ist, dass man clever ist, Strecken richtig versteht und seine Stärken entsprechend einsetzt.

STANDARD: Inwieweit profitieren nun die von Roland Assinger, Wolfgang Grabner und Florian Scheiber trainierten Athletinnen von der verkleinerten Speed-Trainingsgruppe I?

Kriechbaum: So haben wir es geschafft, einen Schritt in Richtung ausgewogene, individuelle Betreuung zu machen, was nicht nur für Set-up-Fragen wichtig ist. Die Stimmung im Team ist gut, das ist enorm wichtig. Man gewinnt ja nicht immer, muss auch Niederlagen verkraften.

STANDARD: Bei der anstehenden WM in Aare sind die ÖSV-Damen im Gegensatz zur WM 2017 in St. Moritz die großen Gejagten. Was ist vonseiten der Trainer zu tun, damit sie dem Druck standhalten?

Kriechbaum: Im Grunde soll man eine WM genauso angehen wie jedes andere Rennen und versuchen, die beste Leistung abzurufen. Das ist das große Ziel. Die Konzentration ist darauf ausgerichtet, dass man cool bleibt und mit einer Portion Cleverness ans Werk geht.

STANDARD: Mit Anna Veith, Stephanie Brunner, Cornelia Hütter und Christine Scheyer fehlen gleich vier arrivierte Läuferinnen wegen Verletzungen. Setzen die kontinuierlich daher kommenden Hiobsbotschaften den Kolleginnen nicht sehr zu?

Kriechbaum: Ganz egal, ob Verletzungen in der eigenen Mannschaft oder auch in anderen Teams passieren, das Entscheidende ist, dass man auf seine Qualitäten vertraut und dass man auf sich konzentriert ist. Das schützt am ehesten vor störenden Gedanken.

STANDARD: Funktioniert das auch so friktionsfrei, wie es nach außen hin wirkt?

Kriechbaum: Klar nehmen sie es wahr. Es mag durchaus sein, dass das nicht immer funktioniert, man kann nicht immer den ganzen Tag und über Wochen hundertprozentig konzentriert sein. Viel schlimmer ist es aber, wenn man am Start steht, immer wieder unterbrochen wird und dann auch noch der Hubschrauber fliegt, so wie zuletzt in Garmisch. Diese Situation ist eigentlich viel schwieriger zu meistern, da muss man schon sehr auf sich konzentriert sein. Das ist eine grundlegende Anforderung.

STANDARD: In Garmisch-Partenkirchen hat es bei den Damen wie auch 2017 bei den Herren viele Stürze mit zum Teil schweren Verletzungsfolgen gegeben. Ist die Strecke generell gefährlich?

Kriechbaum: An und für sich ist Garmisch eine schöne Abfahrt, allerdings auch eine, die unter gewissen Umständen doch immer wieder mal kippen kann. Es kann sein, dass ein Sprung im Training gutgeht und dann im Rennen mit ein wenig mehr Geschwindigkeit auf einmal zum Problem wird. Es liegt an der Jury, das im Vorfeld richtig abzuschätzen, aber das ist nicht immer so einfach.

STANDARD: Der Grat zwischen spektakulärer und zu gefährlicher Abfahrt ist ein schmaler. Übertreiben es die Veranstalter manchmal?

Kriechbaum: Die Kunst liegt darin, genau diesen Grat zu finden.

STANDARD: Sollte man nicht im Sinne der Sicherheit der Athletinnen manche Strecken entschärfen?

Kriechbaum: Dazu muss man sich jeden einzelnen Bereich, wo Probleme auftauchen können, genau anschauen. Im Nachhinein ist man immer gescheiter. Man muss versuchen, vor allem die Sprünge so zu präparieren, dass es auch in der Rennsituation mit ein, zwei km/h mehr auch passt. Es gibt Verantwortliche bei der Fis, die das richtig einschätzen sollten. Das gelingt manchmal besser und manchmal weniger gut.

STANDARD: Sind die vielen Stürze nicht Anlass genug, dass man über dickere Rennanzüge mit Protektoren nachdenkt und auch handelt?

Kriechbaum: Die Fis ist grundsätzlich für das Reglement zuständig, es gibt aber viele unterschiedliche Meinungen und Einflussfaktoren. Ein gewichtiges Wort haben da immer die Herren mitzureden. Es ist kaum möglich, im Damenbereich eine eigene Richtung einzuschlagen, zumindest wird es nicht gemacht. Bevor man Regeländerungen vornimmt, muss man sich aber erst einmal anschauen, welche Verletzungsmuster es gibt. Es gibt viele Ursachen und selten einen grünen Zweig.

STANDARD: Gibt es Überlegungen hinsichtlich eines weniger aggressiven Materials?

Kriechbaum: Verletzungen im Skisport sind nicht völlig zu vermeiden, Ziel ist, sie zu reduzieren, auch weil sie Negativwerbung sind. Es ist das Bestreben aller, ein Material an den Beinen zu haben, das schnell ist. Und das geht nur, wenn man es aggressiver macht. Dabei bewegt man sich natürlich am Limit. Insofern ist das ein Widerspruch in sich. Man hat vor ein paar Jahren durch die Anpassung der Taillierung im Riesentorlauf gesehen, dass das auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist.

STANDARD: Keine Lösung in Sicht?

Kriechbaum: Den Ansatzpunkt, den Skisport sicherer zu machen, haben wir leider noch nicht. Man könnte versuchen, Kanten, Schuhe oder auch Bindung weniger aggressiv einzustellen. (Thomas Hirner, 4.2.2019)