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Wie Tiere sich im Fall von Ungerechtigkeiten wehren, konnte man bei Kapuzineraffen sehen: Sie reagierten erbost und warfen mit Dingen um sich.

Foto: Getty Images / Light Rocket / Wolfgang Kaehler

Ist der Mensch das einzige Lebewesen, das Gefühle wie Empathie zeigen und moralisch agieren kann? Wissenschafter haben bei Interaktionen zwischen Tieren, die als moralisch gedeutet werden können, stets von quasiempathischem arterhaltendem Verhalten gesprochen.

In jüngster Zeit werden derlei Verhaltensmuster auch auf einer anderen Ebene diskutiert. Am Messerli-Forschungsinstitut der Vetmed-Uni Wien beispielsweise beschäftigt man sich mit der Frage, inwieweit man bei Tieren sinnvoll von Moralfähigkeit sprechen kann und warum diese aus ethischer Sicht relevant ist.

Die Philosophin Judith Benz-Schwarzburg leitet ein vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Projekt zum Thema. "Ausgehend von der Überzeugung des britischen Philosophen Mark Rowlands, dass auch tierliches Verhalten durch moralische Emotionen motiviert sein kann, wollen wir die kognitiven Voraussetzungen moralischen Verhaltens bei Tieren näher bestimmen", sagt sie. Und ergänzt: "Allerdings gehen wir dabei im Gegensatz zur aktuellen philosophischen Debatte über Empathie als moralische Emotion hinaus."

Ratte mit Moral

Daher sollen auch Emotionen wie Geduld, Schuldgefühle oder Trauer bei Tieren in den Fokus rücken. Damit die Sache nicht einseitig wird, wollen die Forscher auch die weniger positiven Gefühle wie Eifersucht, Schadenfreude oder Grausamkeit unter die Lupe nehmen. Die Vermutung, dass Tiere sowohl anderen Tieren als auch Menschen gegenüber so etwas wie moralisches Verhalten zeigen können, wird von mehreren wissenschaftlichen Untersuchungen genährt.

Von einem Team aus Psychologen und Neurowissenschaftern um Peggy Mason wurde 2011 etwa ein Experiment durchgeführt, in dem eine frei laufende Ratte und eine in einer Plexiglasröhre eingesperrte Artgenossin gemeinsam in eine "Testarena" gesetzt wurden.

Nach einigen Durchläufen hatten die freien Tiere gelernt, wie sie das Türchen in der Röhre öffnen und die gefangene Ratte befreien konnten. "Sobald sie den Mechanismus verstanden hatten, reagierten die frei laufenden Ratten intentional und schnell", berichtet Judith Benz-Schwarzburg.

Helfen und teilen

Erstaunlich ist: "In Kontrollbedingungen, in denen eine Spielzeugratte oder gar nichts in der Röhre lag, nahm das Öffnen der Tür ab, war niedrig oder fand gar nicht statt." Warum handelten die Ratten so? Haben sie die eingesperrte Ratte vielleicht nur befreit, damit sie anschließend mit ihr spielen konnten? "Nein, denn die Tiere befreiten auch dann, wenn der Kontakt danach unterbunden wurde."

Wenn sie die Wahl zwischen einer Röhre mit lebender Ratte und einer mit Schokolade hatten, öffneten die Versuchstiere meist beide Röhren. "Und zwar in beiden Fällen, ohne Zeit zu verlieren", betont die Wissenschafterin. In über der Hälfte der Versuche teilten sie sogar die Schokolade. Gab es hingegen eine Schokoladenröhre und eine leere Röhre, wurde Erstere deutlich schneller geöffnet.

Die Forscher bezeichnen dieses Verhalten der Ratten als "empathisch motiviertes Hilfeverhalten". Bei Affen konnte man ein solches schon nachweisen, für Nagetiere waren diese Erkenntnisse allerdings völlig neu. "Natürlich gibt es viele prosoziale Verhaltensweisen, die der Gruppe dienen und evolutionsbiologisch erklärbar sind", so die Philosophin. "Aber bei der Moralfähigkeit sind wir an den unmittelbaren Ursachen interessiert, das Verhalten muss auf der Basis moralischer Motivationen erfolgen."

Verständnis von Fairness

Wichtig für Moralfähigkeit könnte auch ein zumindest elementares Verständnis von Fairness sein. Wie sieht es damit bei Tieren aus? Auch dazu wurden bereits Experimente durchgeführt. Am Clever Dog Lab des Messerli-Instituts etwa sollten zwei Hunde nebeneinander Pfötchen geben – aber nur einer wurde dafür immer wieder mit einem Leckerli belohnt. Schon nach wenigen Durchgängen verweigerte der leer ausgegangene Proband seine Pfote. "Darin zeigt sich ein basales Verständnis von Fairnessregeln", erklärt die Wissenschafterin.

Das wohl bekannteste Experiment dazu wurde von den Verhaltensforschern Frans de Waal und Sarah Brosnan vor mittlerweile fast 20 Jahren mit Kapuzineraffen durchgeführt. Um deren Gerechtigkeitssinn zu testen, erhielt einer von zwei Affen im Austausch für einen Spielstein ein Gurkenstück, der andere dagegen eine viel begehrtere Weintraube.

Nachdem das benachteiligte Tier diesen Vorgang mehrfach hatte beobachten müssen, verschmähte es zunächst seine mickrige Belohnung, danach warf es den Wissenschaftern die Gurke kurzerhand zurück und trommelte aufgebracht mit der Hand auf den Boden.

Judith Benz-Schwarzburg und ihr Team analysieren Experimente dieser Art, um das Moralverhalten der Tiere philosophisch-theoretisch beschreiben und die Studien angemessen interpretieren zu können. Darauf aufbauend wollen sie mittels verschiedener ethischer Theorien die Implikationen herausarbeiten, die moralisches Verhalten bei Tieren für den Menschen nach sich zieht bzw. nach sich ziehen sollte.

Neue Ethik

"Wir nutzen immer mehr Tiere als Nahrung, als Heimzoo- oder Versuchstiere etc.", so die Philosophin. "Oft unterbinden die Haltungsbedingungen komplexes Sozialverhalten, wie es etwa auch moralisches Verhalten ist. Für bestimmte wissenschaftliche Experimente werden die Tiere sogar gezielt ihrer Moralfähigkeit beraubt." So habe man beispielsweise junge Ratten sozial isoliert, um zu überprüfen, ob sich die dadurch entstandenen Defizite und die abnorme Aggressivität dieser Tiere im Erwachsenenalter noch kurieren lassen.

"Im Dienst der psychologischen Grundlagenforschung werden auch chirurgische Eingriffe an den Gehirnen von Ratten vorgenommen, um Modelle für Kaltherzigkeit bzw. Depression zu kreieren", berichtet Judith Benz-Schwarzburg.

Während in solchen Experimenten der Charakter von Versuchstieren gezielt verändert wird, steht am Messerli-Institut das natürliche Sozialverhalten der Tiere im Forschungsfokus. "Um soziales Lernen etwa bei Schweinen beobachten zu können, haben wir eine Freilandstation mit 39 Kunekune-Schweinen aufgebaut", so die Philosophin. "Da Schweine üblicherweise im Alter von sechs Monaten geschlachtet werden, weiß man noch kaum etwas über ihr Lern- und Lehrverhalten in der Gruppe."

Die Forscher betreten hier also wissenschaftliches Neuland, das international auf großes Interesse stößt: "Von BBC bis Arte haben schon viele TV-Sender bei uns gedreht", freut sich Benz-Schwarzburg. "Obwohl wir über die meisten Tiere erst wenig wissen, wird immer deutlicher, wie eng wir – auch in einem ethisch bedeutsamen Sinn – mit ihnen verwandt sind. Und zwar nicht nur evolutionär, sondern auch sozial und kognitiv."

Erkenntnisse wie diese könnten eine neue Ethik als Gegenmodell zur klassischen Morallehre mit ihrer fraglosen Vorrangstellung des Menschen begründen. (Doris Griesser, 8.2.2019)