Ogiermann: "Ich sehe hier eine Rückkehr zum Orakel. Aus den Datenbergen kommen Antworten auf Fragen, niemand weiß aber, wie die Antwort zustande kommt."

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"Es sieht düster aus", das sagt nicht nur Jan Martin Ogiermann, sondern auch etliche Schüler und Schülerinnen, die nach dem Vorbild der 16-jährigen Schweding Greta Thunberg freitags die Schule schwänzen, um für mehr Umweltbewusstsein zu demonstrieren.

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Jan Martin Ogiermann: "Meine Lebensweise ist einigermaßen klimaverträglich."

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STANDARD: Herr Ogiermannn, was hat Sie dazu bewogen, sich mit der Zukunft zu beschäftigen?

Jan Ogiermann: Man muss doch nur die Zeitung aufschlagen. Sofort stößt man auf alle möglichen offenen Fragen, die in den nächsten Jahrzehnten zu lösen sein werden. Ich sehe eine große Dynamik in vielen Bereichen: Wissenschaft, Wirtschaft, Politik. Alles ist extrem in Bewegung geraten, und alle wollen wissen, wohin das führt.

STANDARD: Die Pointe ihres Buches ist allerdings: Die Zukunft hat selbst eine Geschichte. Überraschend viel Zeit widmen Sie dabei den frühen Hochkulturen. Sie sprechen geradezu von einer "Zivilisation der Leberschau", also einer ganzen Zivilisation, die auf einer Orakelpraxis begründet sei.

Ogiermann: Ich möchte der Vorstellung etwas entgegensetzen, dass unsere Geschichte im alten Griechenland beginnt. Die Leberschau ist eine Klammer, die den alten Orient mit der klassischen Antike bis zum späten Römischen Reich verbindet. Daraus ergeben sich eine andere Periodisierung und ganz andere Zusammenhänge. Die Leberschau war eine immens wichtige Praxis in der Alten Welt. Assyrische Könige wollten vor Entscheidungen in der Leber lesen, später sind das Bürgerversammlungen in Athen und Rom, die auf dieselbe Quelle zurückgreifen.

STANDARD: Was macht denn eine Leber, also ein totes Organ, lesbar?

Ogiermann: Die Leber ist den Tontafeln ähnlich, auf denen die Menschen im alten Orient geschrieben haben. Sie hat eine ähnliche Farbe. Wie man beim Schreiben mit einem Keil etwas in den feuchten Ton kerbt, so ähnlich drücken die Götter Kerben und Löcher in die Leber, um den Menschen etwas mitzuteilen. Es ist damals die Rede von der Tontafel der Götter.

STANDARD: Nur die Juden oder Judäer, wie Sie schreiben, bleiben zu diesen Praktiken auf Distanz.

Ogiermann: Der Kult in Jerusalem ist der einzige ohne Leberschau. Es werden im Tempel genauso Tiere geopfert, irgendwann aber heißt es, man solle den Leberlappen verbrennen. Man kann nun darüber streiten, ob sich das direkt auf die Leberschau in anderen Teilen des Nahen Ostens bezieht. Aber die Tendenz ist deutlich: Der Gott von Jerusalem soll frei sein im Lohnen und Strafen seines Volkes, das ihm treu sein soll.

STANDARD: Ursprünglich hatten die Juden nur geringe apokalyptische Erwartungen. Wann änderte sich das?

Ogiermann: In Jerusalem gab es damals einen staatlich-kultischen Komplex. Als der 167 vor der Kalenderwende erschüttert wird, kommt eine ganz neue Vorstellung von Zukunft auf. Ein hellenistischer Herrscher greift in den JHWH-Kult ein. Diese Verletzung des Kults kann nur durch ein direktes Eingreifen Gottes geheilt werden. Das ist die Wurzel der Vorstellung, dass sich die Welt fundamental ändern kann. Gott ist nun ein Gott der Geschichte von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende.

STANDARD: Sprachen die jüdischen Propheten eigentlich von der Zukunft, oder waren sie nicht eher so etwas wie Intellektuelle, also Gegenwartsdeuter?

Ogiermann: Die Propheten sind vor allem Menschen, die für Gott sprechen. Immer wieder heißt es: Das Wort Gottes erging an ... Das ist eine Formel für Vollmacht. Die ist nicht unbedingt auf die Zukunft bezogen. Das Volk Israel soll nicht den anderen Göttern hinterherrennen, so die Kernbotschaft. Im Kräftespiel der damaligen Großreiche kann das dann auch sehr politisch werden. Sollen wir uns gegen die Babylonier zur Wehr setzen oder uns ihnen unterwerfen?

STANDARD: Jesus war auch ein jüdischer Prophet, aber mit ihm begann etwas Neues.

Ogiermann: Zukunft und Gegenwart verschränken sich. Dämonen werden ausgetrieben, das bedeutet: Die kommende Königsherrschaft Gottes ist schon da. Die Anhänger Jesu versuchen alle Menschen in dieser Welt zu bekehren und eine einzige Zukunftsgemeinschaft zu bilden. Eine christliche Einheitsgesellschaft bleibt aber nur ein Ideal, denn die Juden sind immer dabei, und später kommen auch noch die Muslime dazu.

STANDARD: Theologen sprechen bei Jesus von einer präsentischen Eschatologie: Die letzten Dinge sind mitten in der Gegenwart.

Ogiermann: Im Vergleich zu den antiken Kulturen ist das ein Wandel. Die Geschichte läuft für Christen darauf zu, dass das Volk eines Tages vor seinem König steht. Dieses Ende wird aber immer mitgedacht, wenn die Kulthandlung vollzogen wird.

STANDARD: Seit wann gibt es eigentlich eine offene Zukunft?

Ogiermann: Selbst bei einer Weissagung ist die Zukunft offen. Man ist ja nicht davon ausgegangen, dass das immer eintrifft. Der Leberschauer kann genauso einen Fehler machen wie der Seemann, und doch zweifelt niemand an der Seefahrt. Die christliche Zivilisation sucht dann nach Indizien: Wann kommt das Ende? In der Reformation geht die Einheitsidee in die Brüche, allmählich wird der Mensch zum Zukunftsakteur, das wird von der Aufklärung gesetzt, und in dem Moment ist es offen. Die Frage ist: Wie verändert das Handeln der Menschen die Welt?

STANDARD: Man rechnet nicht mehr mit dem Eingreifen Gottes.

Ogiermann: Das ist nicht mehr der prägende Diskurs, bis heute gibt es aber apokalyptische Sekten und die Erwähnung des Gerichts im Glaubensbekenntnis. Richtig vergangen ist das ja alles nicht.

STANDARD: Könnte man nicht auch den Marxismus als futurologische Sekte verstehen?

Ogiermann: Die religiöse Heilserwartung setzt sich in andere Zusammenhänge fort. Viele gehen davon aus, dass die Welt graduell immer besser wird oder irgendwann sogar ein perfekter Zustand eintritt. Immer wieder sind die Zukunftserwartungen positiv. Das könnte man als umgeformtes christliches Erbe sehen. Friedrich Schlegel hat gesagt, die moderne Geschichte beginnt in dem Moment, in dem die Menschen versuchen, das Reich Gottes auf Erden zu errichten.

STANDARD: Inzwischen haben wir es mit einer Verwissenschaftlichung der Prognostik zu tun.

Ogiermann: Der Begriff Futurologie wird gegen Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt. Es gab damals Versuche im Zusammenhang der Rand Corporation, mit Informationstechnologie in die Zukunft zu schauen. Entscheidende Anstöße kamen aus der Raketentechnik, daraus entstand ein militärisch-wissenschaftlicher Komplex. Man fragte sich zum Beispiel in Hinblick auf denkbare Waffengattungen: "Wann wird es das geben?", und hat dafür Wahrscheinlichkeiten errechnet. Manches davon ist amüsant, denn die technische Entwicklung wurde in den 60er-Jahren schwer überschätzt.

STANDARD: Der Kapitalismus kalkuliert mit der Zukunft. Macht das seine Attraktion aus?

Ogiermann: Stabilere Institutionen sind wichtig für Kapitalgewinne, die Zinsen sanken. Wertpapiere sorgten für zusätzliche Dynamik. Ideen müssen mit Kapital ausgestattet werden. Den Wettbewerb mit der Planwirtschaft hat der Kapitalismus gewonnen, weil er Kapital flexibler verteilt.

STANDARD: Was bringen heute die Algorithmen und Datenmengen für die Beschäftigung mit der Zukunft?

Ogiermann: Ich sehe hier eine Rückkehr zum Orakel. Aus den Datenbergen kommen Antworten auf Fragen, niemand weiß aber, wie die Antwort zustande kommt. Sie fällt sozusagen vom Himmel.

STANDARD: Google umnebelt uns mit den Dämpfen der Pythia?

Ogiermann: Google ist das neue Delphi. Big Data hat jedenfalls Züge davon.

STANDARD: Wie halten Sie es persönlich mit Ihren Daten?

Ogiermann: Ich bin ziemlich altmodisch. Soziale Medien nütze ich nur sehr eingeschränkt und hinterlasse sicher eine schmale Datenspur. Die Zeitung habe ich noch auf Papier abonniert. Schulkameraden von mir leiten Start-ups, ich war immer eher der Büchermensch und schaue ein wenig staunend auf diese modernen Entwicklungen. Es ist ja fast schon ein Anachronismus, in dem sterbenden Medium Buch über die Zukunft zu veröffentlichen.

STANDARD: Der Klimawandel macht die Zukunftsfrage für alle Menschen virulent, auch ethisch. Haben Sie irgendwelche Entschlüsse gefasst, die damit zu tun haben?

Ogiermann: Ich besitze kein Auto, ich fliege wenig, meine Lebensweise ist einigermaßen klimaverträglich, auch datenökologisch bin ich zurückhaltend, weil ich so altmodisch bin.

STANDARD: Geht es den Bach hinunter mit der Erde?

Ogiermann: Man muss schon klar sagen, dass ich das mit Bedauern sehe, was sich in den letzten Jahren getan hat. Wenn Trump sagt, das alles hätte mit dem menschlichen Handeln nichts zu tun, dann ist das eine Katastrophe. Und insgesamt verschlechtert sich die internationale Zusammenarbeit. Das sind keine guten Zeichen.

STANDARD: Die schwedische Schülerin Greta Thunberg ist auch eine Futurologin.

Ogiermann: Ja, sicher. Es spricht alles dafür, dass in den nächsten Jahrzehnten ein irreversibler Punkt erreicht wird. Wenn nicht sehr plötzlich Technologien entstehen, die dem etwas entgegensetzen könnten, sieht es düster aus. Im Moment kann man nur bremsen und die Emissionen beschränken. (Bert Rebhandl, ALBUM, 11.2.2019)