Dieser Politiker ist nackt: Boris Johnson, führender Brexiteer und früherer britischer Außenminister, wird im Vereinigten Königreich neuerdings mit heruntergelassenen Hosen karikiert.

Foto: APA/AFP/GLYN KIRK

Mark Leonard hat vor kurzem im Kommentar der anderen (siehe "Die Macht der Populisten") ein Szenario deutlich gestärkter populistischer Parteien bei der nächsten EU-Wahl entworfen. Dabei wird befürchtet, dass sie "Sand ins Getriebe der Europäischen Union" streuen könnten. Tatsächlich definieren sich die europäischen Populisten ja hauptsächlich über die Ablehnung von etwas. Wir wissen genau, wogegen sie sind, aber was bieten sie an? Wie sieht ein politisches Projekt der Populisten aus?

In die Tat umgesetzt

Der Brexit ist das einzige, bisher in die Tat umgesetzte politische Projekt der europäischen Populisten und deswegen ein Lehrbeispiel. Die Bezeichnung als einziges politisches Projekt beinhaltet durchaus beide Aspekte: dass es ein konkretes politisches Projekt überhaupt gibt und dass man wirklich darangeht, es umzusetzen. Üblicherweise sind Populisten sehr unspezifisch immer gegen den "Zentralismus aus Brüssel", gegen Migration etc. Wenn sie in Regierungen kommen, setzen sie kaum etwas ihrer ohnehin spärlichen Vorhaben um.

Das liegt einfach daran, dass populistische Vorhaben per definitionem nicht umsetzbar sind. Entweder sind sie mit dem übergeordneten Recht (Verfassung, EU-Recht, Menschenrechte) nicht vereinbar oder sachlich unmöglich, z. B. massive Steuersenkungen, die sich selbst finanzieren.

Der Brexit bietet sich daher geradezu als ideales populistisches Projekt an, denn man muss zunächst gar nichts politisch umsetzen. Danach wird sich schon alles ergeben, und man hat den Eliten eins ausgewischt. Nach dem Referendum im Juni 2016 waren sich Le Pen, Strache, Vilimsky etc. daher in ihrem Jubel einig: Großbritannien erhält seine nationale Souveränität zurück, und Österreich und Frankreich sollten auch solche Referenden angehen.

Wahrnehmung

Wesentliche Elemente des Populismus, die für das Thema Brexit charakteristisch sind, sind die Vision einer ehemals idealen Heimat ("Retropie" nach Zygmunt Bauman) und eine extrem negative und von Gefühlen statt von Fakten gespeiste Wahrnehmung der aktuellen gesellschaftlichen und ökonomischen Situation. Das trifft in dieser Allgemeinheit auf Links- und Rechtspopulismus zu, im Rechtspopulismus mündet das aber in Xenophobie, Rassismus und den permanenten Appell an die niedrigsten Instinkte. Schuld an der "miserablen" Situation "des Volkes" sind für den Populisten die Eliten, also die liberalen, urbanen Kosmopoliten, die an der Globalisierung erfolgreich teilnehmen (können). Sie verhindern die Umsetzung der "Retropie": eine absolut sichere Gesellschaft (Kriminalität, Arbeitsplatz), die völkisch homogen ist und Migration stark begrenzt oder verhindert.

Im Falle des Brexits hat – gemäß allen Analysen – die Migrationsfrage am stärksten gewogen. Dabei handelte es sich hauptsächlich um die nach 2004 einsetzende Migration aus den neuen, osteuropäischen EU-Mitgliedsländern. Zahlreiche, von englischen Thinktanks durchgeführte ökonomische Studien über das Thema haben ergeben: Diese Migranten sind im Durchschnitt jünger als die Briten, haben eine höhere Partizipationsrate am Arbeitsmarkt und tragen mit ihrer Steuerleistung und ihrer geringen Wahrscheinlichkeit, Sozialleistungen zu empfangen, netto positiv zum öffentlichen Haushalt bei.

Ein durch Migration verursachter Lohndruck und/oder Anstieg der Arbeitslosigkeit (auch nur in einzelnen Segmenten) konnte nur in ganz wenigen von zahlreichen Studien nachgewiesen werden, manche Studien weisen sogar positive Effekte auf Löhne und Beschäftigung nach. Dennoch wurde diese Migration von den Brexit-Befürwortern vor allem als negativ für die englische Gesellschaft empfunden. Der Populismus schafft ein Klima der Angst und massiven Unzufriedenheit, in dem gefühlte Nachteile die faktischen Vorteile aufwiegen.

Paradoxien und Profiteure

Ähnlich war die Situation in Bezug auf die ökonomischen Vorteile der EU-Mitgliedschaft. In einem durch interregionale und internationale Wertschöpfungsketten geprägten europäischen Wirtschaftsraum ist die Frage, was uns "die EU" wirtschaftlich bringt, nur noch von einigen wenigen Experten der Außenhandelsökonomie und der interregionalen Input-Output-Analyse beantwortbar. Die ökonomischen Studien, die auch das Abstimmungsverhalten beim Brexit-Referendum analysiseren ("The Mismatch between Local Voting and the Local Economic Consequences of Brexit", Regional Studies, 51), erhalten diesbezüglich ein paradoxes Resultat: die höchste Zustimmung zum Brexit gab es in den Regionen East Yorkshire and Northern Lincolnshire, die indirekt über interregionale Wertschöpfungsketten am meisten von UK-Exporten profitieren.

Da nicht alle Bürger und Bürgerinnen Experten werden können, geht es darum, durch Vernunft und Aufklärung die Stimmungslage der Bevölkerung mit der Faktenlage in Einklang zu bringen. In der Theorie versuchen das die neuen Aufklärer wie Hans Rosling und Steven Pinker, die uns die Faktenlage näherbringen wollen. Das kann funktionieren, aber besser funktioniert ein echter Test an der Realität, wie ihn der Brexit darstellt. Das ist es, was wir im Ernstfall von den Populisten erwarten dürfen: politisches Chaos ohne Plan B, Abwanderung von Unternehmen und Personen, die Gefahr eines sozialen und ökonomischen Abstiegs in einer völlig unsicheren Zukunft. Und dieses Projekt soll vom Wähler bei den nächsten EU-Wahlen deutlich gestärkt werden? Really? (Kurt Kratena, 7.2.2019)