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Demonstranten in London betonen das Friedensprojekt EU. Die Menschen würden wissen wollen, wie es weitergeht, sagt der Politologe Werner Weidenfeld, und bräuchten "ein Handlungsnarrativ, ein Zukunftsbild für Europa".

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Werner Weidenfeld blickt zuversichtlich in die Zukunft der EU.

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Die Europawahl im Mai sei ein "historisches Momentum". Die Menschen brauchen ein neues Zukunftsbild der EU, sagt der Politikberater Werner Weidenfeld. DER STANDARD traf ihn bei der Konferenz "Ideas for the Future of Europe" in der Fachhochschule Salzburg.

STANDARD: Was bedeutet der Brexit für die Zukunft Europas?

Weidenfeld: Auf der einen Seite einen Hauch von Schwächung, dadurch dass das große Potenzial Großbritanniens abdriftet. Auf der anderen Seite ist es ein Weckruf für das integrierte Europa, stärker zukunftsträchtig zuzugreifen. Die EU hat im vergangenen Jahr 17 Entscheidungen zur Sicherheitspolitik gefällt. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini sagte, man habe in zehn Monaten mehr entschieden als in den letzten zehn Jahren – weil Großbritannien das zuvor ausgebremst hatte.

STANDARD: Die EU muss nach dem Brexit nicht stabilisiert werden, sondern geht gestärkt aus dieser Sache heraus?

Weidenfeld: Ja, aber sie muss ihre strategische Sprachlosigkeit überwinden. Die Oberen spüren selbst, dass da ein Bedarf ist. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron spricht von einer Neugründung Europas, die EU-Kommission kommt mit Szenarien über die Zukunft. Da kommt Druck auf.

STANDARD: Was sehen Sie als wahrscheinlichere Variante: Wird es der harte Brexit, oder gibt es noch eine Chance auf eine Lösung?

Weidenfeld: Dadurch, dass das ein rein innenpolitisch britisches Spiel ist, ist es schwer, das von außerhalb vorauszusagen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Der harte Cut, oder Großbritannien bleibt in der Zollunion – also das Norwegenmodell. Das war so vorbereitet in dem Agreement zwischen EU-Verhandler Michel Barnier und Premierministerin Theresa May, nur sie bekam keine Mehrheit im Parlament. Die harte Grenze zu Irland würde bedeuten, dass Sie sehr schnell die Fotos von Ermordungen an dieser Grenze wiederhaben werden. Wie man das aushalten will, ist mir zweifelhaft. Um die strategische Sprachlosigkeit zu überwinden, braucht es strategische Köpfe. Barnier ist so einer. Ihn zum Chefverhandler zu nominieren war ein heller Moment von Jean-Claude Juncker. Er hat den Besten, den man dafür auswählen kann, gekriegt.

STANDARD: Das heißt, es gibt noch Hoffnung für eine Einigung?

Weidenfeld: Ja, bis zur letzten Sekunde.

STANDARD: Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch, es wird über die Menschenrechte diskutiert, und einige Länder ignorieren EU-Recht. Ist die EU in Gefahr?

Weidenfeld: Nein. Wir leben in einem Zeitalter der Komplexität – mit der Globalisierung und Digitalisierung. Über 70 Prozent der Mitbürger bekennen sich dazu, dass sie das alles nicht verstehen. Ich nenne es Zeitalter der Konfusion. Das löst Angst aus. Die Leute wollen wissen, wie es weitergeht. Populistische Bewegungen haben einfache Formeln als Antwort, an denen die Menschen mit ihrer Frustration andocken können. Diesen Trend kann man mit einem strategischen Angebot aushebeln. Sie brauchen ein Handlungsnarrativ, ein Zukunftsbild für Europa. Dann geht der Magnetismus in eine andere Richtung. Da bin ich zuversichtlich.

STANDARD: Das sollte also die Strategie proeuropäischer Parteien bei der Wahl sein?

Weidenfeld: Absolut. Die kommende EU-Wahl hat insofern ein historisches Momentum, weil die Leute eine Antwort wollen auf ihre Sorge um das Zukunftsbild. Darum muss man sich bemühen. Die Parteien streiten über Einzeldetails und kommen mit 25-Punkte-Vorschlägen. Damit haben sie keine Wirkung. Ich würde bei einem strategischen Angebot nie über drei Punkte hinausgehen. Ein historisches Beispiel, bei dem das gelungen ist, war die "Eurosklerose". Zwei Staatsmänner sagten, wir müssen Europa retten: Mitterand und Kohl. Jacques Delors gab Europa als strategischer Kopf eine identitätsstiftende Herausforderung: den Binnenmarkt zu vollenden mit der Krönung der Wirtschafts- und Währungsunion.

STANDARD: Fehlen uns diese zwei Personen, die Europa nach vorn bringen? Von politischen Kommentatoren wurde immer wieder konstatiert, dass Merkel und Macron nicht diese Führungspersönlichkeiten sind.

Weidenfeld: Es drängt sich im Moment niemand auf. Macron hätte das Zeug in der Anfangsphase gehabt, da ist Deutschland nicht aufgesprungen. Die deutsche Kanzlerin ist im situativen Krisenmanagement genial begabt, aber nicht im großen strategischen Wurf. Nun scheidet Großbritannien aus, Junker tritt in Ruhestand. Also wo haben wir noch wen?

STANDARD: Also auf neue Köpfe warten?

Weidenfeld: Ja. Ich bin offen gestanden nicht deprimiert. Dieses Krisenmodul kennen wir seit den 1950er-Jahren. Deshalb sage ich cool, warten wir noch zwei drei Jahre ab. Es gibt einen Höhepunkt in den Umfragen, es braucht keine Gegenbewegung, sondern man muss nur strategisch liefern.

STANDARD: Wie bewerten Sie das Auftreten der EU als internationaler Akteur?

Weidenfeld: Bei Umfragen, wozu die EU-Integration gebraucht wird, steht auf Platz eins: Sicherheit. Das bedeutet, die Verantwortlichen in der EU müssen alle Kraft hineinlegen, außen- und sicherheitspolitisch handlungsfähiger zu werden. Die Ausdünnung der Beziehung zu Amerika – wenn Europa das bringt, sind wir sofort wieder interessant auch für Trump. Da gibt es in Europa noch keine profilierte strategische Kultur. In früheren Zeiten im Ost-West-Konflikt gab es das schon. Wenn ich mich an meine Zeit als Amerika-Koordinator erinnere, ich konnte da jeder Zeit mal schnell bei Henry Kissinger anrufen. Wer ruft heute an, um zu hören, wie die Stimmungslage ist? Das gibt es gar nicht mehr. Das müssen sie aufbauen.

STANDARD: Ist die EU zu schwerfällig für eine konkrete Außenpolitik? Ein Veto eines einzelnen Mitgliedstaates reicht, um Beschlüsse zu torpedieren.

Weidenfeld: Man geht in der Sicherheitspolitik den sogenannten Weg der verstärkten Zusammenarbeit, also differenzierter Integration. Es muss nicht jeder zustimmen. Das gehört in der Außenpolitik auch dazu. Solange sie das einstimmig machen, haben sie den Ausweg wie jetzt bei Venezuela, dass es nicht auf EU-Ebene beschlossen wird, sondern 17 Staaten sagen halt, wir machen das so.

STANDARD: Wie kann das neue Narrativ der EU aussehen?

Weidenfeld: Der europäische Beitrag zur globalen Zivilisation ist gefragt. Die Leute spüren, dass wir in eine neue weltpolitische Architektur reinrutschen. Die zweite Sache ist, wie man die EU in einen effektiven Handlungsraum bringt. Das ist ja nicht effektiv, was bisher dort läuft. Die Effektivität muss sofort Legitimation finden. Stichwort: Partizipationskultur. Das europäische Parlament müsste der öffentliche Ort der Selbstwahrnehmung Europas werden. (Stefanie Ruep, 8.2.2019)