Foto: Visualisierung: Sumitomo Forestry / Nikken Sekkei

Eine grüne Blumenwiese, ein kleiner Nutzgarten mit Obst und Gemüse, ein wild in sich verdrehtes, verschraubtes Bäumchen, das mit seinen knorrigen Ästen skulpturengleich von der draußen liegenden Natur in den Innenraum hineinragt. Doch was in den ersten Sekunden den Anschein erweckt, als säße man in einem schintoistischen Schrein, in einem hölzernen Tempel vielleicht, mit krabbelnden Insekten und zwitschernden Flügelkreaturen rundherum, entpuppt sich bei näherem Hinsehen, sobald man die Augen geöffnet hat, als mitten ins Hochhaus hineingerissenes Atrium, das Lüftchen pfeift einem um die Ohren, irgendwo zwischen der 60. und 70. Etage.

Ein Höhenmeter für jedes Firmenjahr

Was heute noch Zukunftsmusik ist, wird sich in den nächsten 22 Jahren, geht es nach dem japanischen Forstunternehmen Sumitomo Forestry, als überaus reale Gegenwart präsentieren. Zu seinem 350-Jahr-Jubiläum nämlich möchte sich das 1691 gegründete Imperium, das sich seit damals um die Bewirtschaftung der japanischen Waldflächen kümmert, mit einer neuen Unternehmenszentrale belohnen. Im Tokioter Bezirk Marunouchi soll ein 350 Meter hohes Holzhochhaus entstehen, das auf den Namen W350 hört. Ein Höhenmeter für jedes bestehende Firmenjahr. Kolportierte Baukosten: 600 Milliarden Yen, rund 4,8 Milliarden Euro. Geplante Fertigstellung: 2041.

"Was heute noch Zukunftsmusik ist, wird sich in den nächsten 22 Jahren als überaus reale Gegenwart präsentieren": das Hochhaus mit dem Namen W350.
Foto: Visualisierung: Sumitomo Forestry / Nikken Sekkei

Materialforschung

"Holz spielt in der japanischen Architektur seit geraumer Zeit eine unverzichtbare Rolle", sagt Akira Ichikawa, Präsident der Sumitomo Forestry Co. Ltd. "Holzhäuser schaffen eine einzigartige Atmosphäre für den Menschen und eine angenehme Umgebung für Pflanzen und Organismen. Indem wir uns darauf spezialisiert haben, die Materialforschung und die technologischen Entwicklungen und Fertigungstechniken auf diesem Gebiet voranzutreiben, wollen wir das Holz als zukunftsfähigen Baustoff vorantreiben."

Laut OECD weist Japan – hinter Finnland – den weltweit zweithöchsten Waldanteil auf. 68,5 Prozent der japanischen Landfläche sind von Wald bedeckt. Rund ein Drittel davon wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte künstlich angelegt, wobei sich die Pflanzungen nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem auf die beiden für die japanische Bauwirtschaft wichtigsten Baumarten konzentrieren – auf Zedern und Zypressen. "Dieses Holz ist nun in großen Mengen ausgewachsen und bereit zur Ernte", so Ichikawa. "Mit dem Projekt W350 wollen wir ein Exempel statuieren."

90 Prozent Massivholz

Errichtet wird das 70-stöckige Mammutprojekt auf einer Grundfläche von 70 mal 70 Metern, wobei das Haus wie eine innen hohle Röhre, wie eine Art Cannellone, in den Himmel ragen wird. Der Innenhof, der durch große, in die Fassade integrierte Atrien mit der Außenwelt verbunden sein wird, dient nicht nur der Belichtung, sondern auch der Erschließung in Form von Liften und quer durchs Nichts führenden Treppenläufen. 90 Prozent des Wolkenkratzers werden in Massivholz errichtet: Säulen, Pfeiler, Balken, Decken, Böden, Wände, Innenausbau. Ergänzt wird die Konstruktion von einem stählernen, außen liegenden Traggerüst, das dem Haus die nötige Elastizität und Erdbebensicherheit verleihen soll.

"Ein Holzhaus mit 350 Metern Höhe klingt nach Zukunftsmusik", sagt Architekt Tadao Kamei, CEO und Präsident von Nikken Sekkei. "Aber tatsächlich könnten wir mit dem Bau, wenn der Auftraggeber nicht bis 2041 warten wollen würde, schon heute beginnen." Mit 2600 Mitarbeitern zählt das 1900 gegründete Büro zu den größten und ältesten Architekturbüros der Welt.

Japanische Architektur

In seiner 120-jährigen Geschichte realisierte Nikken Sekkei, das heute Dependancen in Asien, in Europa und im Nahen Osten betreibt, bereits mehr als 25.000 Bauwerke. Derzeit widmet ihm die Architekturgalerie München eine Soloausstellung, die die Themen Ethik, Respekt und Nachhaltigkeit in diesem gigantischen Betrieb beleuchtet.

"Japanische Architektur ohne Holz ist nicht denkbar, aber mit dem starken Wachstum der Städte nach 1950 ist das Material fast zur Gänze aus dem Stadtbild verschwunden", so Kamei. "Wir wollen diese Lücke schließen und Holz auch als urbanen Konstruktionswerkstoff wieder sichtbar machen."

In dieser Maßstäblichkeit ist der Einsatz jedenfalls einzigartig: Allein die vertikalen Leimbinderpfeiler des Gebäudes werden im Fundamentbereich eine Dimension von 2,30 mal 2,30 Metern aufweisen. Wichtiges Detail am Rande: Schon jetzt, obwohl sich das Projekt noch in der Konzeptionsphase befindet, arbeitet Nikken Sekkei intensiv mit Handwerkern und Zimmermännern zusammen.

Rekordbau aus Wien

Das derzeit höchste Holzhochhaus mit insgesamt 18 Stockwerken befindet sich in Vancouver, Kanada. Schon bald wird den Rekord das 24-geschoßige Hoho in der Seestadt Aspern brechen. "Rohstoff für Holzhäuser gibt es jedenfalls zur Genüge", sagt Georg Binder, Geschäftsführer von Proholz Austria. "Allein in den österreichischen Wäldern wächst alle 40 Sekunden ein ganzes Einfamilienhaus nach. Bedenkt man, dass der Holzbauanteil in der österreichischen Bauwirtschaft derzeit rund 22 Prozent beträgt, ist das Potenzial noch lange nicht ausgeschöpft." (Wojciech Czaja, 9.2.2019)