In der stärksten Stunde seiner politischen Karriere, bei der ersten Pressekonferenz im Mai 2016, sprach Ex-Kanzler Christian Kern von der "Zukunftsvergessenheit" der Politik – und traf damit einen Nerv.

Die meisten Menschen planen für die Zukunft voraus, indem sie lernen, sparen oder bauen. Auch Unternehmen, denen oft ein kurzfristiges Denken vorgeworfen wird, blicken bei ihren Investitions- und Geschäftsplänen meist viele Jahre voraus, weil sie nur so profitabel bleiben können.

Bloß die Politik hantelt sich von Wahltermin zu Wahltermin weiter und tut sich schwer, den langfristigen Gesamtnutzen über den kurzlebigen eigenen Vorteil zu stellen. Das galt auch für Kerns Regierung, die rasch vor der Wahl 2017 den Pflegeregress abschaffte, ohne ein nachhaltiges Pflegefinanzierungskonzept vorzulegen. Sein Nachfolger Sebastian Kurz schielt noch konsequenter – und höchst erfolgreich – auf die Umfrage des Tages.

Aus Sicht der handelnden Politiker ist das verständlich. Schließlich wollen sie wiedergewählt werden, ja müssen das sogar, wenn sie ihre politischen Ziele verwirklichen wollen. Doch viele Wähler lassen sich von aktuellen Geschehnissen und vollmundigen Versprechen blenden und honorieren längerfristige Konzepte kaum.

Auch das hat einen guten Grund: Die zeitintensive Beschäftigung mit Zukunftsfragen zahlt sich für den Einzelnen nicht aus. Denn eine Stimme allein fällt beim Ergebnis kaum ins Gewicht. Deshalb lässt man sich an der Urne gerne von momentanen Gefühlen und Eindrücken leiten – von simplen Slogans statt komplexen Zusammenhängen.

Das heißt nicht, dass die Politik Zukunft nicht gestaltet. Langfristige Budgetpläne und jahrelange Bauvorhaben zeugen davon. Doch auch diese sind meist für den augenblicklichen Vorteil optimiert. Heute keine großen Opfer verlangen, lautet die Hauptdevise der Politik. Ob ihre Entscheidungen zehn Jahre später als Erfolg oder Fiasko gesehen werden, ist Politikern meist egal. Dann sind sie ja längst anderswo.

Die Folgen dieser Zukunftsvergessenheit sind überall zu spüren: Schuldenberge, die selbst in der Hochkonjunktur kaum schrumpfen; Pensionssysteme, die zukünftige Empfänger benachteiligen; fehlende Mittel für Bildung und Grundlagenforschung; und allen voran der skandalöse Mangel an Engagement im Kampf gegen den Klimawandel. Den Preis für die Fehlentwicklungen zahlen stets die kommenden Generationen. Kein Wunder: Sie entscheiden keine Wahlen.

Dass es auch anders geht, zeigen zwei Staaten, die bei der Fähigkeit zur langfristigen Planung hervorstechen: die direktdemokratische Schweiz und – trotz all seiner Schattenseiten – das autoritäre Singapur. In beiden Gesellschaften herrschen ein rationaler Zugang zur Politik und viel Anerkennung für Wissen und Expertise vor.

Statt Politiker für deren Kurzzeitopportunismus zu schelten, sollten Bürgerinnen und Bürger sich fragen, was sie zu einem solchen Kulturwandel beitragen können. Auch die Medien sind gefordert, weniger Raum und Zeit dem Tagesgeschehen und mehr der Zukunft zu widmen. Denn nur, wenn man Politiker für die langfristigen Folgen ihrer Tätigkeit zur Rechenschaft zieht, werden sie über den Tag hinausdenken und -handeln. (Eric Frey, 8.2.2019)