"Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht" – unter diesem Motto versammelten sich rund 1.300 Menschen in Bludenz.

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Nadja Natter wurde ohne Demoerfahrung zur Organisatorin.

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Pfarrer Christian Stranz (links) ist ernüchtert über seine Schäfchen. Internist Burkhard Walla weiß die Ärzteschaft hinter sich.

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"Luminare Elevation", die Lichtinstallation von Brigitte Kowanz, wurde durch eine neue Botschaft aktualisiert: Vom Leuchtturm, einem Fabrikschlot der früheren Getznerwerke (heute Lünerseepark), wird von nun an an jedem Demosonntag das Brecht-Zitat "Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht" über Lichtimpulse in den Abendhimmel gemorst.

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Ginge es nach dem Bürgermeister, wäre am Sonntag Ruhe gewesen. Nicht weil Mandi Katzenmayer das Anliegen der Demonstrierenden nicht unterstützen würde, im Gegenteil: Das tat der schwarze Lokalpolitiker bei der Vorbereitung der Veranstaltung in seiner 15.000-Einwohner-Stadt Bludenz sogar tatkräftig, sagen die Organisatoren. Es ist wegen Dornbirn.

Die Bluttat an einem Beamten der Bezirkshauptmannschaft hat hier vieles verändert. Vier Tage danach – tatverdächtig ist ein türkischer Staatsbürger, geboren und aufgewachsen in Vorarlberg, wegen zahlreicher Straftaten abgeschoben, mit Aufenthaltsverbot belegt, über ein Asylgesuch wieder nach Österreich eingereist – findet der Bludenzer Stadtchef Katzenmayer: "Es wäre ein starkes Zeichen für die Familie des Opfers gewesen, das abzusagen."

Absagen?

Demoorganisator Konrad Steurer sieht das anders. Auch er hat überlegt, was die Ereignisse von Mittwoch für die Protestveranstaltung am Sonntag bedeuten. Bezirkshauptmannschaft und Politik hatten den Druck sanft erhöht – Stoßrichtung: absagen. Herr Steurer, im Broterwerb Geschäftsführer der Suchtberatungsstelle Die Faehre, ist kein "Berufsdemonstrant". Erstmals mit den rechtlichen Pflichten eines Demoverantwortlichen konfrontiert, war er leicht verunsichert. Letztlich stand für ihn aber fest: "Jetzt zu schweigen" wäre der gemeinsamen Sache abträglich.

Die gemeinsame Sache? Die hat ihre Wurzeln im Oktober 2018. Auslöser für die alle zwei Wochen stattfindenden Sonntagsdemos war der rüde Abschiebeversuch einer armenisch-iranischen Familie aus Sulzberg. Der Fall der Familie P. erschütterte die Öffentlichkeit. Die schwangere Frau kollabierte während der Amtshandlung, musste ins Krankenhaus. Ihr kleiner Bub und der Ehemann wurden nach Wien gebracht. Die Trennung der Familie war ein Fehler, wie man im Innenministerium am nächsten Tag einräumte.

Debatte um humanitäres Bleiberecht

Der Fall löste eine intensive Diskussion über das humanitäre Bleiberecht aus. Landeshauptmann Markus Wallner (ÖVP) verlangte mehr Mitsprache von Ländern und Gemeinden, die besser beurteilen könnten, wie die Integration verlaufe. Aus Wien hieß es "Nein" mit dem Argument, die Vorarlberger stünden mit dem Begehr allein da. Im Ländle wuchs das Unverständnis über den formalistischen Zugang der Politik mit all seinen Auswüchsen.

Klaus Begle, Hohenemser Kommunalpolitiker der ÖVP, wurde es zu viel. Am 11. November rief er zur ersten Sonntagsdemo auf. Der neue Umgang mit sozial Schwächeren im Allgemeinen und der Menschenwürde aller, auch und im Speziellen von Asylwerbern, wie ihn die Türkisen in Wien mit dem blauen Partner pflegen würden, habe ihm so ein Unbehagen bereitet, dass er aktiv werden wollte, erzählt er dem STANDARD. Sein Mittel der Wahl: Protest auf der Straße. Zusätzlich motiviert haben den Psychiater die zwei jungen Burschen aus Afghanistan, die er bei sich aufgenommen hat und von denen einer abgeschoben werden soll.

Eine, die den Arzt von Anfang an unterstützt hat, ist Sigrid Brändle, eine Frau mit überraschendem politischem Hintergrund. Unternehmerfamilie, ausgeprägtes soziales Gewissen, in Deutschkursen für Geflüchtete engagiert – und auf einem FPÖ-Ticket als Parteifreie in der Hohenemser Stadtvertretung. Wie es ihr mit der Bundespartei geht? "Manchmal gar nicht gut", sagt Brändle. Vieles diene "nur dazu, die Leute aufzustacheln". Bei den Blauen bleibt sie mit solchen Ansichten absolutes Minderheitenprogramm: "In der Fraktion ernte ich Schweigen."

Losmarschieren

Nadja Natter, die mit drei Gleichgesinnten zwei Demos in Bregenz organisiert hat, wäre es lieber gewesen, hätte manch einer zu ihrem Engagement geschwiegen. Sie habe erfahren müssen, was es bedeutet, einen Shitstorm auszulösen, erzählt die Berufsschullehrerin von üblen Postings und Hass-Mails. Frau Natter marschierte, "obwohl ich vorher selbst noch nie auf einer Demo war". Das politische Erwachen kam mit dem Ziehsohn aus Afghanistan, um den sie sich seit Jahren kümmert.

Wesensmerkmal der Vorarlberger Protestbewegung ist ihre Flexibilität und gesellschaftliche Breite. Was als One-man-and-one-woman-Aktion begonnen hat, wechselt seither unter der Dachmarke "Uns reicht's" – zentrale Anlaufstelle für wichtige Fürsprecher aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft – Ort und Organisatoren.

"Gegen alle, die sozial schwach sind"

Pfarrer Christian Stranz und der Arzt Burkhard Walla haben die bisher größte Protestkundgebung am Dornbirner Kirchenplatz organisiert, sie sprechen von bis zu 2000 Teilnehmern. Jetzt sitzen sie in der Praxis des Internisten, und der Mann der Kirche erklärt: "Die Politik dieser Regierung geht gegen alle, die sozial schwach sind. Und hat dabei immer noch so viel Zustimmung von den Wählern. Da sind auch Christen dabei. Das macht mich betroffen." Selbstkritisch fragt er: "Predigen wir so schlecht? Oder warum verstehen die Leute nicht, was das Anliegen von Jesus war?"

Neben wütenden Reaktionen mancher Gläubiger habe es einen Haufen positiver Rückmeldungen gegeben, erzählen die beiden. Ärztekammer wie Kirchenvertretung haben sich in Vorarlberg hinter die Sache gestellt. Walla, selbst Vizepräsident der Standesvertretung, sieht es als seine Aufgabe, "Politiker zu ermutigen, dass sie sich hinstellen und dagegenhalten". Das heiße nicht, dass man die Ängste der Menschen nicht verstehe. Aber es brauche Differenzierung statt Ideologie.

Das kann auch Landesstatthalter Karlheinz Rüdisser (VP) unterschreiben. Er weiß, dass die Vorarlberger anders ticken – was die Abstimmung mit der Parteiführung nicht erleichtert. Wo die Landesregierung nicht mit den Türkis-Blauen im Osten übereinstimmt: Mitsprache beim humanitären Bleiberecht, Streichen von Deutschkursen oder etwa die gemeinsame Schule. Nach dem Verhältnis innerhalb der Partei befragt, antwortet Rüdisser mit einer Anekdote: Er habe seinen Kindern früher oft politische Standpunkte genannt, die sie einer Partei zuordnen sollten – "das wäre heute unmöglich".

Gedenken

Die Bludenzer Sonntagsdemo begann mit einer Schweigeminute für Alexander A., der an seinem Arbeitsplatz durch Messerstiche sein Leben lassen musste. Und für jene 2500 Menschen, die im Mittelmeer auf der Flucht starben.

1.300 Menschen hat das Veranstaltungsteam gezählt. Trotz zahlreicher Interventionen aller politischen Parteien, die Demonstration wegen der Gewalttat von Dornbirn abzusagen, kamen viele Menschen aus ganz Vorarlberg nach Bludenz. Als Zeichen für Menschlichkeit, für Zusammenhalt einer Gesellschaft, die das nötiger denn je hat, sagten Redner und Rednerinnen.

Die Bludenzer Demo stand unter dem Brecht'schen Motto "Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht". Dieses Zitat wurde vom Lünserseepark, einem Gewerbe- und Einkaufszentrum im Nachbardorf Bürs in den Abenddhimmel geschickt. Medium für die Botschaft war die "Luminare Elevation", eine Lichtinstallation von Brigitte Kowanz. Der Lichtkamin wurde durch eine neue Botschaft in Orange, an Rettungswesten erinnernd, aktualisiert: Vom Leuchtturm, einem Fabrikschlot der früheren Getznerwerke (heute Lünerseepark), wird von nun an jedem Demosonntag das Brecht-Zitat durch Lichtimpulse gemorst.

Wie es weitergeht

Was könnte die Zukunft für die Vorarlberger Aktivisten bringen? Klaus Begle hofft auf die zweite Instanz für seinen Ziehsohn. Am Montag stellt er sich seinen Kritikern in der Fraktion. Sigrid Brändle will nicht mehr für die FPÖ kandidieren. Nadja Natter plant die nächste Demo. Auch Konrad Steurer will neue Verantwortung übernehmen. Christian Stranz und Burkhard Walla würden gerne mit Kanzler Sebastian Kurz über christlich-soziale Werte diskutieren. Die Sulzberger bangen um "ihre" Familie. Im April kommt das Baby auf die Welt. Humanitäres Bleiberecht wird Familie P. verwehrt. Ihr Anwalt Stefan Harg hofft auf einen Aufenthaltstitel über eine Arbeitsplatzzusage.

Laut Asylstatistik des Landes leben 1.620 Menschen in der Grundversorgung, davon 960 Asylwerber, 143 Asylberechtigte, 403 subsidiär Schutzberechtigte, 90 mit rechtskräftig negativem Bescheid. 45 Lehrlinge sind noch im Asylverfahren und bei negativem Ausgang von der Abschiebung bedroht. (Jutta Berger, Karin Riss, 10.2.2019)