In den mit Öl- und Gasreichtum gesegneten Staaten am Persischen Golf ist man Ungewöhnliches gewohnt: die höchsten Hochhäuser der Welt, opulente Zurschaustellung von Reichtum, gigantische Veranstaltungen. Ein Rabbi, der für den Verkauf koscherer Hotdogs wirbt, ist allerdings selbst für die Golfstaaten etwas Neues. Rabbi Marc Schneier, Gründer einer New Yorker Synagoge, berät eigenen Angaben zufolge die Veranstalter der Fußball-WM 2022 in Katar darüber, wie sich jüdische Besucher des Sportfests wohler fühlen könnten.

Rabbi Marc Schneier mit Sheikh Nahyan Al Nahyan, Bildungsminister der Vereinigten Arabischen Emirate.

Ein neues Gesicht ist der Sohn des aus Wien vertriebenen Rabbis Arthur Schneier im Nahen Osten bei weitem nicht. Mit seiner Foundation for Ethnic Understanding bereist der 60-Jährige seit Jahren die Golfstaaten, um für den Dialog zwischen Muslimen und Juden zu werben. In dieser Rolle ist er auch im Beratergremium des in Wien ansässigen König-Abdullah-Zentrums für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICIID) tätig. Vergangene Woche war er deswegen in Wien und traf sich mit dem STANDARD zu einem Gespräch über seine Arbeit, die Zukunft der arabisch-israelischen Beziehungen und das in Wien umstrittene KAICIID.

STANDARD: Sie kommen aus einer berühmten Rabbinerfamilie, haben in den Hamptons im Bundesstaat New York erfolgreich eine neue Gemeinde aufgebaut. Wieso entscheidet man sich da eines Tages, in die Golfstaaten zu reisen und für den Dialog zwischen Juden und Muslimen zu werben?

Schneier: Vor 30 Jahren hatte ich einen besonderen Fokus darauf, die historische Allianz zwischen Afroamerikanern und Juden in den Vereinigten Staaten wiederaufzubauen. Nach der Ermordung von Martin Luther King ist diese Beziehung ja schlechter geworden, und uns ist es gelungen, das zu verbessern. Vor 15 Jahren war diese Mission quasi erfüllt, also wandten wir uns etwas Neuem zu. Ich dachte mir, dass eine der großen interreligiösen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts der sprichwörtliche Golf zwischen 1,6 Milliarden Muslimen und 16 Millionen Juden ist. Heute, 15 Jahre später, sind wir in 30 Ländern auf dem gesamten Globus aktiv.

STANDARD: Jetzt bereisen Sie den Golf, um Werbung für den interreligiösen Dialog zu machen. Das sind Länder, in denen – auch über offizielle Kanäle – immer wieder offen antisemitische Propaganda gemacht wird. Haben Sie persönlich derartige Erfahrung vor Ort gemacht?

Schneier: Ich habe dort persönlich noch nie Antisemitismus erlebt. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Ich war vor einigen Monaten in Berlin und fühle mich wohler dabei, meine Kippa in Bahrain zu tragen als in Berlin – und ich habe kein Sicherheitspersonal oder Ähnliches, wenn ich in Bahrain durch den Suk spaziere. Keine zwei Religionen haben mehr Gemeinsamkeiten als das Judentum und der Islam. Wir haben nicht nur diese Gemeinsamkeit im Glauben, wir teilen auch das gleiche Schicksal. Schauen Sie sich die Transformation der muslimisch-jüdischen Beziehungen in den USA an. Die amerikanisch-muslimischen Gemeinschaften werden Ihnen sagen, dass sie keine größeren Verteidiger und Beschützer haben als die amerikanisch-jüdischen Glaubensgemeinschaften. Umgekehrt hat die muslimische Gemeinschaft nach dem Massaker in der Synagoge von Pittsburgh 200.000 Dollar gesammelt, um die Kosten für die Begräbnisse der Opfer zu decken. Islamische Anführer in den USA treten gegen Antisemitismus auf. Genau das ist die Formel, die wir nach Europa bringen müssen.

Muzammil Siddiqi und Rabbi Marc Schneier mit dem inzwischen verstorbenen König Abdullah bin Abdulaziz Al Saud, der auch Mitbegründer des nach ihm benannten Dialogzentrums in Wien war.

STANDARD: In Europa läuft hingegen eine andere Debatte. Auch in Wien – einem der Geburtsorte des modernen Antisemitismus – wird heftig über den "importierten Antisemitismus" diskutiert.

Schneier: Das ist zweifellos ein wichtiges Thema. Ich sage immer: Die Menschen sind nur so ehrenwert, wenn sie für die Rechte aller Menschen wie für ihre eigenen Rechte kämpfen. Es wird sich nichts ändern, solange nicht Anführer in der muslimischen Gemeinschaft ausgemacht werden, die gegen Antisemitismus in ihrer eigenen Gemeinde auftreten. Das kann aber nicht von der jüdischen Gemeinschaft gemacht werden oder von Vertretern des österreichischen Staates. Es muss aus der muslimischen Gemeinschaft selbst kommen. Diese Anführer existieren in der muslimischen Gemeinschaft. Wir haben in den USA bewiesen, dass es sie gibt.

Als ich vor fünf Jahren eingeladen wurde, beim Gedenken an die Kristallnacht zu sprechen, brachte ich Imam Shamsi Ali, mit dem ich gemeinsam ein Buch geschrieben habe, mit nach Wien. Sie hätten den Imam sprechen hören müssen – nicht nur gegen Antisemitismus, sondern auch darüber, wie nachlässig die muslimische Gemeinschaft dabei war, sich damals dagegen auszusprechen. Die Zuhörer glaubten, der Imam komme vom Mars, sie hatten so etwas noch nie erlebt. Aber er ist eben keine einzigartige Persönlichkeit. Das ist der Status quo der muslimisch-jüdischen Beziehungen in den USA.

Meine Formel für die jüdisch-muslimischen Gemeinschaft lautet: Ich erkenne meine Verantwortung als Wortführer in der jüdischen Gemeinde, dass ich gegen Islamophobie auftreten muss, an der Front gegen Bigotterie gegenüber Muslimen sein muss. Gleichzeitig würde ich von meinen muslimischen Kollegen erwarten, an der Spitze gegen Antisemitismus und Holocaustleugnung zu sein.

STANDARD: Sind interreligiöse Initiativen wie Ihre auch ein Weg, um Beziehungen zwischen arabischen Staaten und Israel aufzubauen?

Schneier: Zweifellos. Als ich das erste Mal mit einigen Anführern des Golfs zu tun hatte, versuchten sie Israel vom Judentum herauszubrechen. Ich glaube, dass einer meiner Beiträge und der meiner Kollegen über die Jahre ist, das zu ändern. Ich glaube, wir waren sehr erfolgreich darin, die Menschen dahingehend zu erziehen, dass Israel nicht eine 70-jährige politische Realität, sondern eine Angelegenheit unserer Religion ist. Israel stand mehr als 3.000 Jahre im Zentrum des Judentums. Wenn man einen authentischen Dialog mit dem jüdischen Volk führen will, muss man anerkennen, dass Israel Teil unserer Religion ist. Das ist keine Frage der Politik.

STANDARD: Die Beziehungen zwischen den Golfstaaten und Israel erwärmen sich. Erst unlängst besuchte Premier Benjamin Netanjahu den Oman. Wie wird es ihrer Meinung nach weitergehen?

Schneier: Wenn wir von den Anführern des Golfs sprechen, so gibt es ein überwältigendes Bedürfnis danach, offizielle Beziehungen mit Israel herzustellen. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens existiert eine gemeinsame Bedrohung – die existenzielle Bedrohung durch den Iran. Also ein Sicherheitsbedürfnis. Das zweite ist ein ökonomisches Interesse: Der Golf durchlebt gerade eine Übergangsphase aufgrund des rückläufigen Öls. Der dritte Grund für die Annäherung ist, dass die Golfstaaten ihre Beziehungen zu den USA stärken wollen, insbesondere mit der Regierung Trump und dem US-Kongress. Und ein Weg, das zu erreichen, ist, ein Unterstützer Israels zu sein – speziell bei der Trump-Regierung ist das wichtig.

STANDARD: Ist das nicht riskant? Trump könnte in zwei Jahren nicht mehr Präsident sein.

Schneier: Aber es gibt immer den US-Kongress. Das vermutlich einzige Thema, das politische und ideologische Differenzen überragt, ist, Israel zu unterstützen.

STANDARD: Also egal wer gerade an der Macht ist?

Schneier: Es hilft natürlich, dass wir eine US-Regierung haben, die die Pro-Israel-Aktivität auf ein völlig neues Niveau gehoben hat. Man hört, dass sich einige Anführer der Golfstaaten mit Trumps Hingabe zum Golf sehr wohlfühlen – besonders in Hinblick auf die Bedrohung durch den Iran.

STANDARD: Der Friedensplan von Jared Kushner gilt als Blackbox – niemand weiß, was drin ist. Wie sehen Sie den Plan und die Chance auf eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts?

Schneier: Ich gehöre zu den Leuten, die glauben, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nicht ohne Teilnahme der Golfstaaten gelöst werden kann – speziell die wirtschaftlichen Möglichkeiten und Dimensionen, die sie einbringen können. Ich würde sogar so weit gehen, die jetzige Situation dem saudischen Friedensplan von 2002 gegenüberzustellen. 2002 sah der Friedensplan aus Golfsicht so aus: hier Israel, da die Palästinenser – macht es euch aus, und dann ruft uns an. Jetzt erkennen die Führer der Golfstaaten, dass sie selbst auf dem Spielfeld stehen müssen und Teil des Prozesses sein müssen. Katars Engagement ist ein Musterbeispiel dafür, welche Rolle die Golfstaaten spielen können: Die Involvierung Katars in Gaza gibt es nicht aufgrund der Zustimmung der Israelis – das Engagement gibt es aufgrund des Ersuchens der Israelis.

STANDARD: Wenn wir von "den" Golfstaaten sprechen, sprechen wir aber auch von Katar auf der einen und den Emiraten und Saudi-Arabien auf der anderen Seite, die Katar blockieren. Läuft da auch eine Art Wettbewerb, wer zuerst Beziehungen mit Israel verkündet?

Schneier: Es gibt einen gesunden Wettbewerb, wenn es um die Etablierung von Beziehungen mit Israel geht. Sechs Pferde sind im Rennen. Wenn ich wetten würde, würde ich darauf tippen, dass das bahrainische Pferd als erstes ins Ziel läuft. Es gibt keinen anderen Anführer als den König von Bahrain, der es mehr verdient hätte, Erster zu sein. Ich erinnere mich daran, als ich ihn 2011 das erste Mal traf: Er war der erste Anführer am Golf, der sich öffentlich gegen den Iran und dessen terroristische Vorgehensweise aussprach. Es war der König von Bahrain, der 2016 zu mir sagte: "Die einzige Garantie für eine starke moderate arabische Stimme ist ein starkes Israel." Deswegen glaube ich, dass Bahrain der erste Staat sein wird, der diplomatische Beziehungen zu Israel aufbaut. Katar ist eine unbekannte Größe, und falls Katar etwas macht, müssen die Saudis auch etwas machen. Der Wettbewerb hilft Israel.

Marc Schneier mit dem bahrainischen König Hamad bin Isa Al Khalifa, der Rabbi ist im kleinen Golfstaat als Berater tätig.

STANDARD: Von welchem Zeithorizont sprechen wir?

Schneier: Es ist nicht mehr eine Frage, ob es Beziehungen der Golfstaaten mit Israel geben wird, sondern wann. Ich glaube, es passiert eher früher als später. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir bis Ende 2019 einen oder zwei Golfstaaten sehen werden, die offizielle Beziehungen mit Israel verkünden.

STANDARD: Dass arabische Staaten eines Tages formelle Beziehungen mit Israel haben könnten, war bisher immer an einen erfolgreichen Abschluss eines Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinensern geknüpft. Viele Palästinenser befürchten nun, dass sie links liegenbleiben.

Schneier: Es gibt die falsche Wahrnehmung, dass sich die Anführer am Golf nicht mehr um das Schicksal der Palästinenser kümmern. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Sie nehmen die palästinensischen Anliegen sehr ernst, aber genau deswegen braucht es das Golfengagement, um zu einer Lösung zu kommen.

STANDARD: Sie sind auch im Beratungsgremium des König-Abdullah-Zentrums für interreligiösen und interkulturellen Dialog (KAICIID) in Wien vertreten. Dieses wird aufgrund seiner saudischen Verbindungen immer wieder heftig kritisiert.

Schneier: Zunächst macht das KAICIID außergewöhnliche Arbeit, speziell in Afrika und dem Nahen Osten, mit jungen Leuten. Ich glaube, es herrscht ein totales Missverständnis, was das KAICIID ist. Wenn Menschen vom KAICIID hören, hören sie oft nur vom "Saudi-Zentrum". Es ist kein "Saudi-Zentrum", es ist eine Partnerschaft zwischen Saudi-Arabien, Österreich, Spanien und dem Vatikan – das einzige Dialogzentrum der Welt, das nicht nur eine Partnerschaft auf religiös-theologischer Ebene, sondern auch auf politischen Entscheidungsträgern aufbaut. Aus dem KAICIID auszusteigen wäre so, als ob man sagen würde: Treten wir aus der Uno aus, weil gewisse Länder dort Mitglied sind. Es war eine mutige Vision des verstorbenen Königs von Saudi-Arabien, und schauen Sie sich an, wohin diese Vision in den interreligiösen Beziehungen und Aktivitäten am Golf geführt hat. (Stefan Binder, 13.2.2019)