Ob an der Tankstelle, im Restaurant, im Supermarkt, in der Therme oder im Hotel: In weiten Teilen der östlichen Grenzregionen Österreichs ist die Arbeitswelt fest in ungarischer Hand. Innerhalb von nur zehn Jahren ist die Zahl der ungarischen Arbeitnehmer im Inland auf über 90.000 gestiegen und hat sich damit mehr als verdreifacht.

Diese Entwicklung allein würde in Ungarn noch niemanden schrecken. Doch parallel dazu haben zehntausende Ungarn ihr Land in Richtung anderer EU-Staaten verlassen, neben Österreich liegen vor allem Deutschland und Großbritannien im Trend. Die Geburtenrate liegt zudem unter der Sterberate, weshalb die einheimische Bevölkerung schrumpft. Eine nennenswerte Zuwanderung in das Land gibt es nicht. Kurzum: Ungarn kämpft gegen eine veritable Entvölkerung.

Die nationalkonservative Regierung unter Premier Viktor Orbán unternimmt einen neuen Anlauf, um sich dem entgegenzustemmen. Die Fidesz will den Kinderreichtum in Ungarn finanziell fördern. Familien, die mindestens drei Kinder bekommen, erhalten de facto 31.000 Euro geschenkt, gab die Regierung am Montag bekannt. Das ist angesichts eines durchschnittlichen Bruttomonatsgehalts von rund 1.000 Euro viel Geld.

Die Offensive der Orbán-Regierung in der Familienpolitik lenkt die Aufmerksamkeit auf ein im politischen Alltag oft verdrängtes Problem. Während Orbán und seine Fidesz gern über Migration sprechen, die es kaum gibt, schweigt er meist zum Problem der schwindenden Bevölkerungszahl. Laut dem Politologen Ivan Krastev ist Auswanderung dabei für Ungarn die wirtschaftlich wie politisch viel größere Herausforderung. "Die Angst, dass das eigene Land entvölkert wird, ist in vielen Regionen real", sagt Krastev. Sogar der Aufstieg des Rechtsnationalismus in Ungarn lasse sich damit erklären, dass Orbán dieser Furcht seine Politik des Nationalismus entgegensetzt. Diese verspricht, das homogene Ungarn erhalten zu wollen, sagt Krastev.

Selbst Orbáns ständige Attacken gegen die EU und die Zustände in anderen Unionsländern seien mit der Bevölkerungsentwicklung erklärbar, sagt Krastev. Orbán wolle den Menschen zeigen, dass sie es nirgendwo so gut haben wie in Ungarn, und sie damit zum Bleiben zu animieren.

Der Rückgang der ungarischen Bevölkerung ist in der Tat beachtlich. Die Zahl der Einwohner ist seit der Jahrtausendwende von über 10,2 Millionen auf etwas mehr als 9,7 Millionen zurückgegangen. Bis 2050 soll es nur mehr 8,3 Millionen Ungarn geben.

Dahinter verbirgt sich eine höchst unterschiedliche Entwicklung. Während Budapest ebenso wie die trendige Stadt Györ in Westungarn wächst, schrumpft die Bevölkerung in einem Großteil des restlichen Landes umso schneller. Ein Beispiel: Jeder siebente bis achte Bewohner hat die viertgrößte Stadt des Landes, Miskolc, in den vergangenen zehn Jahren verlassen. In der Kleinstadt Salgótarján ist ein Fünftel der Bevölkerung weg. Laut Schätzungen der Immobilienexperten bei der OTP-Bank stehen 560.000 Häuser und Wohnungen im Land leer. In Ortschaften mit weniger als 1.000 Einwohnern ist fast jedes fünfte Wohnhaus unbewohnt. Neben den sozialen Folgen der Entvölkerung wie schrumpfenden Schulklassen und fehlenden Steuerzahlern hält das Problem inzwischen auch viele Firmen im Würgegriff.

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Viktor Orbán will den Kinderreichtum im Land fördern. Kann er damit gegen die niedrige Geburtenrate und die starke Auswanderung ankämpfen?
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Im Gesundheitssektor, am Bau, aber auch in der klassischen Industrie fehlen die Arbeitskräfte, sagt Attila Juhasz, Analyst am unabhängigen Forschungsinstitut Political Capital in Budapest. Laut einer Umfrage der EU-Statistikbehörde Eurostat geben 93 Prozent der ungarischen Industriebetriebe an, dass sie Aufträge ablehnen müssen, weil ihnen Arbeiter fehlen. Das ist ein europäischer Spitzenwert: In Österreich liegt diese Zahl bei aktuell rund 20 Prozent, ebenso wie in Deutschland. In Polen sind es 40 Prozent.

Die Jungen sind weg

Rund 600.000 Ungarn arbeiten in einem anderen EU-Land, wobei die offiziellen Stellen sogar Schwierigkeiten haben, den genauen Umfang zu erfassen. Viele Wochenpendler melden sich in Ungarn nicht ab, weshalb sie in den Statistiken nicht aufscheinen.

Wird die neue Familienpolitik am Trend etwas ändern? Der Demografieexperte Juhasz erwartet einen leichten Anstieg der Geburtenrate durch die neuen Maßnahmen. Denn in der Vergangenheit eingeführte Steuervergünstigungen für Familien hätten eben zu einem solchen Anstieg der Geburtenrate geführt. Das Demografieproblem werde Orbán aber nicht entschärfen können. Inzwischen habe ein zu großer Teil der Menschen im gebärfähigen Alter das Land verlassen – denn ins Ausland gegangen sind vor allem junge Ungarn zwischen 25 und 44. (András Szigetvari, 11.2.2019)