"Die Klimageschichte müsste aus ihrer Nische geholt und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht werden", sagt der Globalhistoriker Jürgen Osterhammel.

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Die Globalgeschichte stellt Zusammenhänge abseits nationaler Grenzen in den Fokus, Perspektiven und Abstraktionsgrad werden variiert. "Globalgeschichte liegt uns deshalb sehr nahe, weil wir unsere Gegenwart als eine Summe weltweiter Interdependenzen erfahren und interpretieren, anders gesagt: als ein Bündel von Globalisierungen", sagte Jürgen Osterhammel in seiner Dankesrede zum Balzan-Preis, den er vergangenen Herbst in Rom erhielt. Für ihn sind Migration, Flucht und Vertreibung beste Beispiele für Arbeitsbereiche eines Globalhistorikers. Aber auch eine Geschichte von Energienutzung und Ressourcenverbrauch solle etabliert werden.

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Ankunft in New York um 1900: Das 20. Jahrhundert kann man nur verstehen, wenn man Migration, Exil und Vertreibung in den Blick nimmt.
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STANDARD: Sie werden für Ihre Arbeit über Globalgeschichte ausgezeichnet – in einer Zeit, in der der Nationalismus weltweit wieder stark zunimmt. Ist es angebracht, Alarm zu schlagen?

Jürgen Osterhammel: Das ist eine Frage, die wir uns alle stellen. Sie hat mit den speziellen Perspektiven eines Globalhistorikers aber relativ wenig zu tun. Die Verbindung zur globalen Perspektive wäre zu sagen, dass eine gewisse politische Fragmentierung da ist, die nationalistisch getrieben ist. Sie begründet sich stark aus der Dynamik der einzelnen Länder heraus. Sie erinnert in manchen Aspekten an die Fragmentierung nach dem Ersten Weltkrieg, als es Versuche der Neuordnung gab.

STANDARD: Das Erstarken des Nationalismus kann man als Gegenbewegung zur Globalisierung sehen. Man stellt die Region wieder in den Vordergrund.

Osterhammel: Ja. Es gibt aber auch ältere regionalistische Tendenzen, die auch in Europa noch virulent sind – von Katalonien bis Schottland. Manches ist auch eine Fortsetzung von Strömungen mit tiefen historischen Wurzeln.

STANDARD: Der Zweite Weltkrieg entschwindet langsam der aktiven Erinnerung. Es ist naheliegend zu denken, dass das neue Konflikte begünstigt. Können Sie diesem Gedanken etwas abgewinnen?

Osterhammel: Es ist die widersprüchliche Folge einer langen Friedenszeit, dass die Bedrohung dem Bewusstsein entschwindet. Das hat verschiedene Dimensionen: Zum einen hat die Generation von Politikern, die jetzt in den Regierungen sitzt – gerade in Österreich sind es zurzeit ganz junge Leute -, die unmittelbaren Kriegsfolgen nicht mehr miterlebt. Ein zweiter Aspekt ist aber auch, dass die fortdauernde nukleare Bedrohung lange Zeit in den Hintergrund gedrängt wurde.

STANDARD: Inwiefern?

Osterhammel: Man hielt die Abrüstungserfolge des späten 20. Jahrhunderts für dauerhaft und garantiert, für den Rest verließ man sich auf den amerikanischen Schutzschirm. Man hoffte generell, dass mit Ende des Kalten Kriegs die Konfrontationen weitgehend enden sollten. Das ist alles nicht eingetreten. Man muss beides zusammendenken: das Schwinden des konkreten Bewusstseins eines tatsächlich erlebten Kriegs und die weiter über uns schwebende nukleare Bedrohung, die die Entwicklung um Nordkorea etwa wieder ins Bewusstsein gehoben hat.

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Dieses Archivbild vom Mai 1956 zeigt einen Wasserstoffbomben-Test über dem Bikini-Atoll. In jüngster Vergangenheit hat Nordkorea Tests derartiger Waffen in Aussicht gestellt.
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STANDARD: Migration und Flucht sind Treiber für das Wiedererstarken des Nationalismus. Wie betrachtet die Globalgeschichte diese Phänomene?

Osterhammel: Migration ist das beste Beispiel für die Frage, was ein Globalhistoriker eigentlich macht. Man kann das 20. Jahrhundert nicht verstehen, wenn man es nicht auch als eine Zeit von Migration, Exil oder Vertreibung versteht. Die Lehre, die die Globalgeschichte bereithalten kann, ist einerseits, dass es Migration immer schon gegeben hat. Man denke nur an die Neue Welt mit ihren Einwanderungsgesellschaften. Es geht aber auch darum, genauer hinzusehen, die Flughöhe zu senken und die Motivationen zu betrachten – bis hin zum einzelnen Auswandererschicksal. Es gab die Sklavenströme genauso wie die Auswanderer aus Europa. Warum sind sie gegangen? Was haben sie erwartet? In welche Kommunikationsströme wurden sie eingebunden? Die Lehren der Globalgeschichte könnten auch im Schulunterricht sinnvoll eingesetzt werden. Man könnte prüfen, wie sich die Briefe, die die Auswanderer nach Amerika einst ihren zurückgebliebenen Familien schrieben, mit den heutigen Smartphone-Vernetzungen von Migranten vergleichen ließen.

STANDARD: Ist Globalgeschichte eine Tochter der Globalisierung?

Osterhammel: Die Globalisierung ist auch ein Konzept der Sozialwissenschaften: der Soziologie, der Politikwissenschaften und zum Teil auch der Ökonomie. In die Denkweisen dieser Bereiche sind Teleologien und Zwangsläufigkeiten ziemlich stark eingebaut. Als Historiker sieht man das mit etwas Unbehagen, weil man doch auch mehr mit zufälligen Konvergenzen rechnen muss. Da sehe ich eine gewisse Abweichung der Sichtweisen. Allgemein könnte man sagen, dass die Geschichte von Globalisierungen, die es in der Ökonomie, in den Migrationssystemen oder bei den Informationstechnologien gibt, Unterfälle einer globalhistorischen Betrachtungsweise sind, sich aber nicht mit ihr decken.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel, das diese Zusammenhänge veranschaulicht?

Osterhammel: Großes Modethema bei Globalhistorikern ist die globale Ideengeschichte. Da geht es etwa um Einflüsse, die der Westen auf Asien hat – selbst das ist aber noch wenig erforscht. Neuerdings fragt man auch nach den Einflüssen, die umgekehrt der Osten auf Europa hatte. Einflüsse dieser Art unterliegen aber keiner Globalisierungslogik. Wir sind dem Verständnis Asiens nicht kontinuierlich näher gekommen.

STANDARD: Wie sonst?

Osterhammel: Ich habe die Auffassung, die man früher in Europa von Asien hatte, untersucht. Die These war, dass sich das 18. Jahrhundert – unter der Prämisse der Aufklärung – in Hinblick auf asiatische Zivilisationen wesentlich offener gezeigt hat, als das im 19. Jahrhundert der Fall war, als eine neue Hierarchisierung und der Rassismus dazukamen. Das ist eine nicht lineare Logik. In einer strikten Globalisierungsdenkweise wäre eine derartige Trübung der Wahrnehmung nicht vorgesehen.

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In welchem Ausmaß verschiedene Imperien Ressourcen ausgebeutet haben, wird künftig auch Historiker beschäftigen. Im Bild: Die Skoda-Fabrik in Pilsen 1938.
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STANDARD: Der Klimawandel ist ein globales Problem. Eignet er sich als ein künftiges Thema der Globalgeschichte?

Osterhammel: Ja. Klimawandel hat auch eine historische Dimension. In der Klimageschichte wird seit langer Zeit konkret empirisch gearbeitet. Diese Disziplin müsste aus ihrer Nische herausgeholt und ins Bewusstsein der der allgemeinen Öffentlichkeit – und der Historiker gebracht werden. Mein Appell wäre, dass man auf möglichst vielen Universitätsinstituten darüber nachdenkt. Anstatt vier Professuren für mittelalterliche Geschichte zu haben, könnte man eine zu Umweltgeschichte umwidmen.

STANDARD: Was wäre Teil einer solchen Disziplin?

Osterhammel: Wie ist man mit Energiequellen umgegangen, wie mit materiellen Ressourcen? Wie wurden Naturkatastrophen in der Gesellschaft verarbeitet. Das Thema bietet viele Möglichkeiten. Man kann sich die Geschichte der Imperien noch einmal ansehen – unter dem Gesichtspunkt, wie weit sie einerseits der Ressourcenausbeutung dienten und wie anderseits die Ressourcen die Expansion überhaupt ermöglichten. Spätestens im 20. Jahrhundert gab es mit Bestrebungen hin zu Naturschutz und zur Konservierung von Rohstoffen eine Gegenbewegung. Ressourcengeschichte wäre also weitgehend eine Ausbeutungsgeschichte – aber nicht nur. (Alois Pumhösel, 13.2.2019)