Der schottische Fotograf Albert Watson wurde von Gloria Rodriguez porträtiert.

Foto: Gloria Rodriguez

STANDARD: Kann man als männlicher Fotograf in Zeiten von #MeToo noch nackte Frauen fotografieren?

Albert Watson: Ich habe den Eindruck, dass unter vielen Menschen und auch unter Journalisten hinsichtlich der #MeToo-Bewegung Verwirrung herrscht. Diese Bewegung hatte nichts mit Nacktheit zu tun, sie hatte und hat mit Belästigung zu tun – mit Männern, die Frauen belästigen, sexuell belästigen.

STANDARD: Also hat sich für Sie als Fotograf nichts geändert?

Watson: Wenn ich jemanden nackt fotografieren möchte, frage ich als Brite höflich. Wenn ein "Nein" kommt, dann bedeutet das für mich "Nein", Ende der Geschichte. Jede Frau, die je für den Pirelli-Kalender fotografiert wurde, war auch damit einverstanden, nackt abgebildet zu werden.

STANDARD: In den letzten Jahren haben die Fotografen den Kalender unter ein Thema gestellt. Was war Ihr Konzept?

Watson: Der Pirelli-Kalender ist ein einzigartiges Projekt für jeden Fotografen. Ich habe mit zwölf Bildern die Geschichten von vier verschiedenen Frauen dargestellt. Diese Bilder sind wie Film-Stills, nicht wie Modefotos konzipiert.

Albert Watson hat für den Pirelli-Kalender Gigi Hadid ("Watching Alexander Wang on Television") und Laetitia Casta ("Cooling Off") fotografiert
Photo by Albert Watson, Gigi Hadid, ‘Watching Alexander Wang on Television,' New York City, from the 2019 Pirelli Calendar.
Foto: Albert Watson

STANDARD: Was war der Firma Pirelli dabei wichtig?

Watson: Pirelli wollte Frauen, die medial weltweit vernetzt sind. Das Model Gigi Hadid, das für das Projekt fotografiert wurde, ist so ein Fall. Sie hat auf Instagram 45 Millionen Abonnenten. Auch die Modedesignerin Victoria Beckham wurde angefragt, sie hat dort 110 Millionen Follower. Und Halle Berry, die durch den Abend führte, an dem der Kalender präsentiert wurde, hat zehn Millionen Abonnenten.

STANDARD: Haben Sie selbst auch einen Instagram-Account?

Watson: Seit rund vier Monaten. Ein Mitarbeiter aus meinem Büro betreut das Profil für mich, und ich checke es zwischendurch. Es ist eigenartig: Ich habe dort eines meiner besten Bilder, das ich in den letzten 40 Jahren fotografiert habe, gepostet und gerade einmal 2000 Likes bekommen. Auf dem Instagram-Account eines anderen Fotografen wurde ein Bild veröffentlicht, das eine Giraffe zeigt, die ein Blatt frisst. Dieses Bild hat 1,2 Millionen Likes erhalten. Das ist doch verrückt! Gleichzeitig finde ich interessant, was sich Leute gerne anschauen.

Photo by Albert Watson, Laetitia Casta, ‘Cooling Off,’ Miami, from the 2019 Pirelli Calendar.
Foto: Albert Watson

STANDARD: Wie viele Menschen folgen Ihnen auf Instagram?

Watson: Achtunddreißigtausend. Ich muss dazu sagen, dass ich viele Abonnenten durch Gigi Hadid gewonnen habe. Sobald sie ein Bild von mir postet und meinen Namen dazuschreibt, wächst mein Instagram-Profil um ein paar Tausend Abonnenten. Dabei wollte ich Gigi Hadid zuerst gar nicht für das Pirelli-Projekt fotografieren ...

STANDARD: Wieso das?

Watson: Mein Konzept beinhaltete eigentlich, mit Schauspielerinnen und Tänzerinnen zusammenzuarbeiten: Julia Garner, Misty Copeland, Laetitia Casta. Eigentlich wollte ich kein Model. Aber Pirelli wollte Gigi Hadid aufgrund ihres Instagram-Profils. Und dann stellte sich heraus, dass sie ganz wunderbar und fantastisch ist. Sie hat meine Erwartungen im Positiven übertroffen. Es gibt ein Bild, auf dem sie ein bisschen posiert, sie ist eben Gigi Hadid, aber ich habe die Schatten, die durch die Fenster fallen, so verstärkt, dass sie wie Streifen über das Bild reichen und dem Foto einen Touch von Film noir geben.

STANDARD: In wie vielen Tagen wurde der Kalender fotografiert?

Watson: Wir haben pro Person 40 bis 45 Bilder gemacht – in vier Tagen. Gigi Hadid war überhaupt nur für sieben Stunden da. Wenn man sie ausschließlich im Studio fotografieren würde, wäre das keine Sache. Aber wenn man verschiedene Szenen fotografiert und eine ganze Crew von Set zu Set bewegen muss, wird es komplizierter und zeitaufwendiger.

Das Bild "16th-Century Aztec Fan" ist von 1990.
Photo by Albert Watson, 16th-Century Aztec Fan, New York City, 1990.
Foto: Albert Watson

STANDARD: Sie arbeiten seit 1970 in der Branche. Was waren die größten technischen Errungenschaften, die Sie erlebt haben?

Watson: Digitale Kameras interessieren mich als Fotografen nicht. Sie sind interessant für Amateure. Die große Revolution war der Computer. Er ist ein fantastisches Gerät, da er mir enorm viele Möglichkeiten gibt, mein Foto zu verändern. Wenn ich Lust habe, kann ich fünf Millionen Dinge variieren und retuschieren.

STANDARD: Fotos werden heute zu Tode retuschiert. Wird ein Foto dadurch nicht zu artifiziell?

Watson: Es gibt mir mehr Kontrolle über meine Arbeiten. Andererseits gibt es heute sehr viele Sammler, die einen originalen Silbergelatine-Print von meinen Fotos kaufen wollen. Ich habe vierzig Jahre in der Dunkelkammer verbracht, ich beherrsche mein Handwerk sehr gut. Beide Medien sind gefragt, und ich kann mein analoges Wissen auch digital bestmöglich umsetzen. Es fällt mir leicht, von einer Welt in die andere zu wechseln. Diese unterschiedlichen Arbeitsweisen machen großen Spaß. Früher hingegen entstand ein Bild so: Vom Negativ ging es in den Druck und weiter in ein Magazin oder in einen Katalog. 99 Prozent der Bilder, die ich damals fotografiert habe, waren nicht retuschiert.

STANDARD: Eines Ihrer berühmtesten Fotos ist ein Porträt von Steve Jobs. Wie kam es zu diesem Bild?

Watson: Ich wurde vom "Fortune Magazine" beauftragt. Das Shooting war für 9 bis 10 Uhr am Morgen im Apple-Headquarter angesetzt. Eine Stunde, keine Sekunde mehr. Fünf Minuten vor 9 Uhr kam Steve Jobs Presse-Agent und meinte zu mir: "Steve hasst Fotografen." Ich erklärte: "Ich bin hier, um ihn zu fotografieren, und er hat zugestimmt, fotografiert zu werden."

STANDARD: Ein holpriger Beginn ...

Watson: Kann man so sagen. Ich habe überlegt, wie ich die Situation auflockern könnte. Als er das Zimmer betrat, meinte ich: "Mr. Jobs, ich habe gute Neuigkeiten für Sie: Ich brauche Sie nur eine halbe Stunde." Er klopfte mir auf die Schulter und meinte: "Großartig! Ich habe so viel zu tun. Eine halbe Stunde ist perfekt!" Dadurch hatten wir sofort einen guten Draht zueinander. Er stellte sich vor die Kamera und sagte: "Was soll ich tun?" Ich meinte: "Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Kopfende eines Tisches, an dem viele Leute sitzen, die nicht Ihrer Meinung sind. Sie aber wissen, dass Sie recht haben." Er lachte: "Kein Problem, das kommt täglich vor." Und er schaute mit diesem überlegenen Blick und diesem fast nicht sichtbaren "Don't mess with me"-Lächeln in die Kamera. Er konnte sich fantastisch konzentrieren, dadurch hatten wir das Bild sehr schnell im Kasten. Später hat er die Bildrechte gekauft. Das Foto wurde als Cover seines Buches und als Bild für seine Traueranzeige genutzt.

STANDARD: Wie geht man als Fotograf mit großen Persönlichkeiten um?

Watson: Man redet einfach mit ihnen. Ich mag Menschen, das ist meine Natur. Als ich fünf Jahre alt war, brachte mich meine Mutter zum Arzt, weil ich ständig geredet habe und nie schlafen wollte. Heute wird so etwas hyperaktiv genannt.

Das Porträt von Alfred Hitchcock bedeutete für Albert Watson 1973 den Durchbruch als Fotograf.
Photo by Albert Watson Alfred Hitchcock, ‘Contact,’ Los Angeles, 1973.
Foto: Albert Watson

STANDARD: Wann gab es die größten Veränderungen in Ihrer langen Karriere?

Watson: Mein erstes gutes Bild und eines meiner Lieblingsbilder habe ich 1973 in Los Angeles fotografiert: Es handelte sich um ein Porträt von Alfred Hitchcock und verhalf mir zu meinem Durchbruch. Danach kam ich zur Mode. Zwischen 1976 und 1980 habe ich rund 60 Titel für die französische "Vogue" fotografiert. Für das erste Cover hatte ich Patti Hansen, die heutige Frau von Keith Richards, vor der Kamera. Dann habe ich meinen Stil verändert.

STANDARD: Warum das?

Watson: Ich hatte Lust auf Neues. Bis dahin waren meine Bilder sehr spontan entstanden, mit in der Hand gehaltener Kamera. 1984 kehrte ich zurück zu meinen Wurzeln. Ich bin ausgebildeter Grafikdesigner, danach war ich drei Jahre lang auf der Filmschule. Meine Fotos sind eine Kombination dieser Einflüsse. Ab 1984 habe ich fast nur noch mit Stativ gearbeitet. Mein Stil wurde stärker und extremer, was in der Modebranche nicht unbedingt gut ankommt.

STANDARD: Welche Fotos kennt man aus dieser Zeit?

Watson: Ich habe sieben Jahre lang die Prada-Kampagne fotografiert und hunderte Modestrecken für die italienische "Vogue".

Der Schotte fotografierte lange Zeit Models und Stars wie Catherine Deneuve für die "Vogue".
Photo by Albert Watson Catherine Deneuve, Paris, 1984, for the March 1984 cover of French Vogue.
Foto: Albert Watson

STANDARD: Sie leben seit vierzig Jahren in New York. Wie haben Sie die Stadt in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren erlebt? Waren Sie oft im Studio 54?

Watson: Nie! Ausgehen hat mich nie interessiert. Ich habe jahrzehntelang nur gearbeitet. Ich bin ein Workaholic. Ein typischer Tag sah damals so aus: Um 7 Uhr am Morgen habe ich ein Magazin-Cover mit Catherine Deneuve in Paris fotografiert. Danach bin ich mit der Concorde nach New York geflogen, war um 11 Uhr im Studio und habe Werbung für ein Haarprodukt produziert. Um 18 Uhr bin ich von New York weiter nach Los Angeles geflogen, um dort bis 2 Uhr in der Früh ein Plattencover zu fotografieren. Mir wird schwindlig, wenn ich daran denke. Heute könnte ich so was nicht mehr abliefern. (Cordula Reyer, RONDO, 21.2.2019)

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