Doris Wagner im Gespräch mit Christoph Schönborn.

Foto: Bayerischer Rundfunk

Doris Wagner: "Was passiert, wenn jemand wie Kardinal Schönborn, mit seinem Einfluss, in Rom bestens vernetzt, nur hoffen kann?"

Foto: Voices of Faith/Rom

Nächste Woche treffen sich Bischöfe aus aller Welt in Rom, um über sexuelle Gewalt in der Kirche zu sprechen. Die Ex-Nonne Doris Wagner tat dies schon 2014 – und stieß innerhalb der Kirche auf taube Ohren. Wagner war in der Ordensgemeinschaft "Das Werk" in Rom von einem Priester vergewaltigt worden. Letztes Jahr wurde Kardinal Christoph Schönborn auf ihr Buch und ihren Ruf nach Konsequenzen aufmerksam – und suchte ein Gespräch mit ihr. Daraus wurde ein öffentlicher Austausch, der Anfang Februar im Bayrischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Vor der Kamera wollte Wagner von Schönborn ein "Ich glaube Ihnen" hören– und bekam es auch.

STANDARD: Frau Wagner, Sie waren in Ihrer Ordensgemeinschaft massiver sexueller Gewalt ausgesetzt. Obwohl Sie alles versucht haben, blieben die Vergewaltigung und die Übergriffe durch einen Priester ohne Konsequenzen. Bezeichnen Sie sich heute noch als katholisch?

Wagner: Hinter dieser Frage steckt die Vorstellung, dass es da jemanden gibt, der verbindlich definiert, wer katholisch ist und wer nicht. Kurioserweise definiert sich das in Österreich, Deutschland und der Schweiz durch den Kirchenbeitrag. Das kann doch nicht die Definition sein! Demnach wären Opfer, die zwar keine Kirchensteuer mehr zahlen wollen, weil sie viel gelitten haben, aber trotzdem in der Kirche ihre Heimat haben wollen, nicht mehr katholisch. Katholisch ist, wer getauft ist – und das kann man auch nicht rückgängig machen. Und warum fragt man eigentlich keinen kirchlichen Würdenträger, der über Jahre Kinder missbraucht hat, ob er noch katholisch ist? Sie meinen wohl auch die Frage, ob ich noch glauben kann.

STANDARD: Können Sie?

Wagner: Auch hier stellt sich die Frage, wie man Glauben definiert. Und da gibt es dasselbe Problem: Eine kleine Gruppe von Männern sitzt in Rom und maßt sich an, zu definieren, was katholischer Glaube ist. Das Theologiestudium hat mir gezeigt, dass diese Definition des Glaubens theologisch nicht haltbar ist und auch niemand darauf verpflichtet werden kann. Ich habe gelernt, dass Glaube rationaler Durchdringung standhält, dass er ethisch verantwortbar sein muss. Das alles hat dazu geführt, dass ich heute einen ganz anderen Glauben lebe als den, den ich früher praktizieren musste. Das ist ein Glaube, der vermutlich nicht dem Urteil von so manchem Glaubenshüter standhält – aber das interessiert mich nicht.

STANDARD: Als Sie die Gewalt innerhalb Ihrer Ordensgemeinschaft anprangerten, wollte Ihnen niemand zuhören. Gab es einen Zeitpunkt, an dem Sie aufgeben wollten?

Wagner: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es ein so langer Weg wird. Zwei Jahre habe ich gedacht, ich muss schweigen um die Kirche zu schützen, dann habe ich verstanden: Ich muss reden, um die Kirche zu schützen. Da ging es mir also immer noch um die Kirche. In meiner Naivität habe ich geglaubt, wenn meine Oberin und später mächtige Menschen in der Kirche wissen, was mir passiert ist, wird etwas geschehen. Als das ausblieb, hat mich das schwer getroffen. Besonders schlimm war auch, als mir die Polizei mitteilte, dass die Ermittlungen eingestellt werden, weil diese Tat gar keinen Straftatbestand erfüllen würde – der Priester hat sich ja nur über meinen Willen hinweggesetzt, keine Waffen gebraucht oder mich grob misshandelt. Dass der Kontext nicht berücksichtigt wird, der Altersunterschied, die Hierarchie, dass ich willenlos gemacht wurde, hat mich sehr getroffen. So habe ich auch gelernt, dass das Sexualstrafrecht in den meisten europäischen Ländern noch immer eine Katastrophe ist.

STANDARD: Die öffentliche Aussprache mit Kardinal Schönborn hat für viel Aufsehen gesorgt. Er hat Ihnen öffentlich gesagt, dass er Ihnen glaubt. Gab es auch Antworten von ihm, die Sie enttäuscht haben?

Wagner: Enttäuschung ist nicht das richtige Wort. Der Mut, dieses Gespräch öffentlich zu führen, offen darüber zu sprechen, was er falsch gemacht hat, etwa nachdem die Vorwürfe gegen Hans Hermann Groër herauskamen, hat mich sehr beeindruckt. Dass er sich nicht verteidigt und sich selber ratlos gezeigt hat, etwa als er von diesem Kardinal erzählt, dem zu dem Thema Missbrauch nur einfällt: "Ihr im Norden seht das halt etwas anders." So erschütternd das einerseits auch ist, ist es andererseits schon wieder sehr stark, dass offen zu zeigen. Mir ist kein Fall bekannt, wo ein Bischof seines Ranges diese Ohnmacht und diese Verfahrenheit so öffentlich zugibt. Das war unglaublich mutig und vor allem so wahnsinnig ehrlich.

STANDARD: Aber was bedeutet das jetzt?

Wagner: Ja, das ist jetzt die interessante Frage: Was passiert, wenn jemand wie Kardinal Schönborn, mit seinem Einfluss, in Rom bestens vernetzt, nur hoffen kann? Das ist ja das Bedrückende an diesem Gespräch. Dieses große Fragezeichen am Ende. Das ist gar kein Vorwurf an ihn, da wird einfach das System sichtbar, dem selbst er sich zu beugen hat, die problematische Verfassung, dass selbst jemand wie Schönborn, ein hochangesehener Kardinal, sich innerhalb dieses Systems machtlos fühlen muss. Das ist für mich das Fazit aus diesem Gespräch. Und das ist jetzt die Frage vor dem Bischofstreffen Ende Februar: Welche Struktur haben wir, dass selbst ranghohe Bischöfe nicht durchdringen?

STANDARD: Sie haben Ihr Buch über die sexuelle Gewalt an Ihnen und auch an anderen schon 2014 veröffentlicht. In den letzten Jahren geriet in vielen westlichen Gesellschaften vor allem der Islam in Zusammenhang mit Frauenrechten in die Kritik. Wie ging es Ihnen damit?

Wagner: Ich habe mir immer gedacht: Das kann nicht nur der Islam, das kann die katholische Kirche genauso. Das zu leugnen finde ich fahrlässig, vielleicht sogar feige. Man sieht das Problem lieber bei anderen als bei sich selber. Ich möchte weder den Katholizismus noch den Islam pauschal ent- oder beschuldigen. Wir müssen stattdessen sehen, dass in jeder Ideologie, egal ob sie religiös gefärbt ist oder nicht, die Gefahr steckt, dass man lieber in Kauf nimmt, dass Menschen leiden, als zu akzeptieren, dass man die eigene Weltanschauung der Realität anpassen, sie überdenken muss.

STANDARD: "Das Werk" ist eine jüngere Glaubensgemeinschaft. Trotzdem waren die Strukturen und das Frauenbild extrem konservativ. Sind neuere Gemeinschaften radikaler?

Wagner: Ja, das ist ein Trend. Auch in Deutschland und in Österreich gibt es die besorgniserregende Entwicklung, dass neuere kirchliche Kreise Frauenrechte ganz radikal infrage stellen. Die einen in seiner Simplizität und Überspanntheit theologisch gar nicht haltbaren Katholizismus praktizieren. Eltern verstoßen ihre Töchter, weil sie mit 17 oder 18 Jahren einen Freund haben, oder drängen und manipulieren ihre Söhne, dass sie Priester werden.

STANDARD: Welche Gruppen sind das konkret?

Wagner: Das sind Gruppen, die eine starke Schwarz-Weiß-Weltsicht haben, die kompromisslose Gefolgschaft verlangen, alle Menschen in Freunde oder Feinde einteilen und junge Menschen mit missionarischem Eifer unter Druck setzen, sich ihnen anzuschließen und für ihre Sache zu kämpfen. Es sind Gruppen, in denen ganz viel von Gott und Wahrheit die Rede ist – und dabei doch oft nur der Anführer der jeweiligen Gruppe und seine Weltsicht gemeint ist, die von niemandem kritisiert werden darf.

STANDARD: Sie beschreiben in Bezug auf Ihrer früheren Ordensgemeinschaft ein Klima, das zur völligen Selbstaufgabe geführt habe – es gab keinen eigenen Willen mehr. Ist das vergleichbar?

Wagner: Ja. Wenn selbstständiges Denken, kritisches Nachfragen und offene Diskussionen nicht möglich sind und Bedenken von außerhalb beiseitegeschoben werden, wenn andere abgewertet und verunglimpft werden – dann ist das sehr bedenklich. Es gibt viele Institutionen – etwa im Sport, wie man in Österreich auch gesehen hat –, in denen Personen massive Übergriffe begehen können, ohne dass ihnen etwas geschieht, weil sie für diese Institutionen wichtig sind.

Dieses Vertuschen haben wir in der katholischen Kirche insbesondere innerhalb dieser neueren geistlichen Gemeinschaften. Sie sind für die Kirche enorm wichtig, weil sie junge, begeisterte Menschen innerhalb der Kirche zeigen. Wenn man aber sagt, das ist keine Begeisterung, sondern die sind manipuliert, und dass das gefährlich ist, weil sie so leicht zu Opfern werden – das wird dann beiseitegewischt, auch wenn es dazu schon Untersuchungen und handfeste Beweise gibt.

STANDARD: Sie haben diese Manipulation selbst erlebt. Hatten Sie vor der Vergewaltigung schon manchmal das Gefühl, dass es Ihnen zu viel der Fremdbestimmung wird?

Wagner: Nein, das kam erst mit der Vergewaltigung. Davor hatte ich die feste Überzeugung, dass meine Oberen die Stelle Gottes vertreten und dass sie mehr wissen als ich. Dass Leiden dazugehört und dass mich mein begrenzter menschlicher Verstand daran hindert, zu verstehen, was gut für mich ist. Erst als ich vergewaltigt wurde, wusste ich, dass irgendwas an dieser Überzeugung falsch ist. Doch um zu verstehen, dass mein Gewissen, mein Verstand und mein Gefühl Instanzen sind, denen ich trauen kann und denen ich trauen muss – dafür habe ich noch Jahre gebraucht.

STANDARD: Auch Frauen in der säkularen Welt müssen das oft erst mühsam lernen – Sie haben sich in wenigen Jahren von einem extrem devoten Frauenbild befreit.

Wagner: Ich kenne beide Seiten – auch die, wie es ist, wenn Frauen verächtlich gemacht werden, wenn sie so leben wie ich. Wenn man sagt: "Die hätte ja nur mal nachdenken müssen." Es ist aber verdammt schwierig, sich davon zu befreien. Manche Frauen gehen sehr selbstverständlich davon aus, dass sie emanzipiert sind, und merken gar nicht, an wie vielen Stellen sie noch in der Falle sitzen. Ich hatte unglaublich viel Glück, dass ich meinen Mann getroffen habe. Ich war erst wenige Monate zuvor vergewaltigt worden und hatte große Angst, dass er mich dafür verachtet. Das kennen viele Frauen, dieses Gefühl, für das, was ihnen angetan wurde, verachtet zu werden. Er hat mich aber immer auf Augenhöhe unterstützt. Viele Frauen haben nicht das Glück, diese Erfahrung zu machen.

STANDARD: In der Dokumentation "Female Pleasure" erzählen Sie davon, dass Ihnen der Priester, der Sie vergewaltigt hat, eine Weihnachtskarte geschickt hat, nachdem Sie ausgetreten sind. Da fragt man sich: Begreift er überhaupt, was er getan hat?

Wagner: Diese Frage habe ich mir in den letzten zehn Jahren oft gestellt. Ich weiß es nicht, ich kann nicht in diese Menschen hineinschauen. Ich kann mir das vorstellen, andererseits auch nicht. Unter meiner Oberin habe ich am meisten gelitten, weil sie für mich verantwortlich war und sie mich erst in diesen Zustand gebracht hat, dass ich ein leichtes Opfer war. Und bei dem Priester, der mich vergewaltigt hat: Wenn ein Mensch vor Angst zittert, verstummt und in Schockstarre verfällt, muss man doch merken, dass das nichts mit Einvernehmlichkeit zu tun hat – und wenn es jemand tatsächlich nicht merkt, wäre es noch erschütternder, dass so jemand zum Priester geweiht wird.

STANDARD: Was erwarten Sie sich vom Bischofstreffen Ende Februar?

Wagner: Vom Bischofstreffen erwarte ich mir nicht viel. Worauf ich mich aber freue, wenn ich zwei Tage in Rom bin, das sind die Opferorganisationen, die über all die Jahre nicht locker gelassen haben und die den Opfern eine Stimme geben. Sie verbreiten eine Art von Aufbruchsstimmung, eine Vision einer anderen, menschenfreundlicheren Kirche. Das ist so ein starkes Bild: Auf der einen Seite vom Tiber treffen sich die Bischöfe, die mit ihrem Latein am Ende, hilflos sind, obwohl sie eigentlich die Macht haben. Auf der anderen Seite treffen sich die Verwundeten, doch dort ist die Stimmung positiv, obwohl sie keine Macht haben. (Beate Hausbichler, 16.2.2019)