Basil Kerski nimmt am Sonntag im Wiener Burgtheater an der Debatte "Europa im Diskurs" zum Thema 1989 teil.

Foto: ECS Gdansk

Was bleibt von 1989? Das Vermächtnis der demokratischen Revolutionen, die vor 30 Jahren die kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa zum Einsturz gebracht haben, steht am Sonntag im Mittelpunkt einer neuen Ausgabe der Gesprächsreihe "Europa im Diskurs". Die vom STANDARD mitveranstaltete Debatte beginnt um 11 Uhr im Wiener Burgtheater. Auf dem Podium wird unter anderen Basil Kerski Platz nehmen, der Leiter des Solidarność-Zentrums in Danzig. Es befasst sich mit der Geschichte und dem Erbe der Bürgerbewegungen von damals – und gerät gerade deshalb in den Strudel politischer Auseinandersetzungen der Gegenwart.

STANDARD: Sie leiten mit dem Europäischen Solidarność-Zentrum in Danzig eine Institution, die von Politikern immer wieder gerne politisiert und skandalisiert wird. Auch jetzt wieder. Woran liegt das?

Kerski: Vor allem Politiker aus dem Lager der (nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit, Anm.) PiS kritisieren uns. Doch sehr viele Menschen, Zeitzeugen, Experten stehen hinter uns. Wir sind schon in unserer programmatischen Ausrichtung ein Haus, das schwierige politische Fragen stellt. Wir sind ein Museum der Zivilgesellschaft und gleichzeitig ein Ort, der die heutige Demokratie und Zivilgesellschaft stärken soll. Das ist unsere offizielle Doppelaufgabe. Die Gründer des ECS wollten einen Ort schaffen, der politische Aufmerksamkeit erfahren wird, zumal um das Erbe der Gewerkschafts- und Friedensbewegung Solidarność noch immer gestritten wird.

Immerhin hat die Solidarność 1989/90 entscheidend zum Fall des Kommunismus in ganz Europa beigetragen. Die Versuchung ist groß, sich selbst oder aber politischen Gruppierungen Verdienste zuzuschreiben, die es in Wirklichkeit so nicht gegeben hat. Oder auch anderen ihre Verdienste abzuerkennen, sie zu Randfiguren zu erklären oder gar als angebliche Verräter zu brandmarken. Gegen solche Vorwürfe muss sich immer wieder Lech Wałęsa wehren, der legendäre Arbeiterführer, Friedensnobelpreisträger und spätere Präsident Polens.

STANDARD: Wie wollten die ECS-Gründer der Politisierung vorbeugen?

Kerski: Dadurch, dass eine pluralistische Institution mit verschiedenen Gründern geschaffen wurde. Paweł Adamowicz, dem vor kurzem ermordeten Oberbürgermeister Danzigs, gelang es, als Initiator die wichtigsten Akteure ins Gründerboot zu holen: den polnischen Staat, konkret das Kulturministerium, dann die Region Pommern, die Stadt Danzig, die heutige Gewerkschaft Solidarność und die Stiftung Zentrum Solidarność. Diese komplizierte Konstruktion setzte sich in den Statuten fort, in denen 2007 ein genau austariertes Konzept zu Finanzfragen und Entscheidungskompetenzen festgelegt wurde. Adamowicz war auch mit Lech Wałęsa, der katholischen Kirche Polens und der Danziger Werft, auf der das ECS-Gebäude entstehen sollte, ins Einvernehmen gekommen.

STANDARD: Warum gibt es dann trotzdem immer wieder Streit? Worum geht es aktuell?

Kerski: Es geht um Einfluss, Macht und Geld. Hinter uns liegen die Kommunalwahlen, die die PiS in der Region Pommern und in Danzig überraschend hoch verloren hat. Bei einem Sieg, von dem die Partei als ziemlich sicher ausging, hätten sich die Mehrheitsverhältnisse im Museumsrat zugunsten der PiS verändert. Das hätte personelle und inhaltliche Änderungen ermöglicht. Doch dazu ist es nicht gekommen. So hat uns das Kulturministerium wenige Tage nach den verlorenen Wahlen hier in der Region das Jahresbudget von sieben Millionen Złoty (etwa 1,6 Millionen Euro) auf vier Millionen Złoty gekürzt – von einem Tag auf den anderen, ohne Vorwarnung. Und das am Ende der Haushaltsberatung! Wir standen plötzlich ohne Geld für unser Programm für 2019 da, ein Programm, das sich auf den 30. Jahrestag der demokratischen Revolutionen in Mitteleuropa konzentrieren sollte. Wir sind ja nicht nur ein Erinnerungsort, sondern organisieren rund 500 Veranstaltungen pro Jahr.

STANDARD: In polnischen Medien ist die Rede von "Erpressung" und gar "feindlicher Übernahme". Was ist da dran?

Kerski: Diese Wortwahl bot sich sich für viele Journalisten angesichts der traumatischen Erfahrung der politischen Übernahme des Weltkriegsmuseums – übrigens auch hier in Danzig – durch die PiS an. Doch die Lage des ECS ist eine völlig andere. Anders als das Weltkriegsmuseum wurde das ECS nicht zu 100 Prozent von der Zentralregierung finanziert. Vielmehr hat die Stadt Danzig Grund und Boden zur Verfügung gestellt, den Bau des Gebäudes auf sich genommen und dabei auch EU-Mittel einbezogen. In der Zeit, als die liberale Bürgerplattform (PO) die Regierung stellte, finanzierte das Kulturministerium alle Aufträge rund um die Ausstellung und später auch unsere Programmarbeit. Die PiS, die seit 2015 regiert, will nun neben mir einen ministertreuen Menschen als stellvertretenden Direktor installieren und eine, quasi von meiner Leitung unabhängige, sogenannte Anna-Walentynowicz-Abteilung einrichten. Dabei kommt die berühmte Kranführerin und Wałęsa-Kritikerin in unserer Ausstellung prominent vor.

STANDARD: Wie geht es jetzt weiter?

Kerski: Nachdem der Museumsrat die Forderung nach der Einrichtung einer neuen, vom Kulturministerium direkt geleiteten Abteilung ganz klar zurückgewiesen und das Kulturministerium öffentlich kritisiert hatte, passierte etwas Unglaubliches: In den sozialen Medien rief eine junge Schneiderin zu einer Spendenaktion auf, und innerhalb von 24 Stunden waren die vom Kulturministerium gestrichenen drei Millionen Złoty auf dem Spendenkonto. Auf ein weiteres Konto, das das ECS eingerichtet hat, zahlen Menschen jeden Tag ein, bis heute. Rund 80.000 Menschen haben für unsere Arbeit gespendet.

Das zeigt etwas ganz Wichtiges: Nicht nur die Danziger, sondern viele Polen im ganzen Land identifizieren sich mit unserem Haus, der Ausstellung und dem Programm. Die Spender haben sich auch klar für die geistige, intellektuelle Unabhängigkeit öffentlicher Kultureinrichtungen ausgesprochen. Unsere Arbeit ist sehr stark europäisch ausgerichtet. Wir beschränken uns also nicht auf die nationale polnische Geschichte, sondern zeigen auch die demokratischen Bürgerbewegungen in ganz Mittel- und Osteuropa: den Mauerfall in Berlin, die Massenflucht der DDR-Bürger durch Ungarn und Polen, das blutige Ende Ceaușescus in Rumänien, schließlich den Zerfall der Sowjetunion.

Bei uns stehen die Bürgerbewegungen im Mittelpunkt, nicht Gorbatschow, Kohl oder Reagan, auch wenn diese natürlich wichtig waren. Mit ihren Spenden und dem Besucheransturm im ECS zeigen die Polen, dass sie für ein differenziertes, pluralistisches Geschichtsbild eintreten und die europäische Einbettung der Solidarność-Geschichte in unserem Haus für richtig halten. Das gibt uns ein starkes Argument an die Hand.

STANDARD: Was ist geblieben vom Aufbruch 1989?

Kerski: Wirtschaftlich stehen alle Länder sehr viel besser da als 1989. Vor allem Polen hat einen beeindruckenden ökonomischen, sozialen und zivilisatorischen Wandel vollzogen. Das ist also positiv. Aber ein Teil der politischen Elite – nicht nur in Polen, sondern in den meisten Ländern Europas – denkt wieder vor allem national, egoistisch, bekämpft das Bewusstsein für eine breitere, europäische Verantwortung.

Ich bin aber sicher, dass diese Haltung keine Mehrheitsmeinung in Polen darstellt. Die meisten Polen sind sowohl polnische als auch europäische Patrioten. Die Wahlen dieses Jahr werden das zeigen. Und zur Erinnerungskultur: Ein großer Teil unserer gemeinsamen europäischen Revolutionsgeschichte von 1989 ist in Europa in Vergessenheit geraten. An den gemeinsamen Weg der friedlich-revolutionären Bürgerbewegungen erinnert sich kaum noch jemand. Die Solidarność, der Runde Tisch in Polen 1989 sowie die ungarischen Reformen von Anfang 1989 waren der Impuls für den Zusammenbruch des Kommunismus im Herbst 1989, für den Mauerfall.

Wir Europäer erinnern uns kaum noch an unsere gemeinsamen Erfolge von 1989. Dabei entstand damals die Grundlage für das neue Europa der Zeit nach dem Kalten Krieg. Diese Abwendung von diesem wichtigen Kapitel der Geschichte verheißt nichts Gutes für die Zukunft. (Gabriele Lesser, 16.2.2019)