Der rasante Wandel in Mittel- und Osteuropa beschäftigte die Debattenteilnehmer auch deshalb, weil viele Menschen dabei auf der Strecke blieben.

Foto: Robert Newald

Als das Bonmot mit dem Aquarium und der Fischsuppe kam, da war es ein wenig so, als säße auch Lech Wałęsa mit auf der Bühne. Den Kapitalismus in Kommunismus zu verwandeln, so hatte es der ehemalige Dissident und spätere polnische Präsident einmal formuliert, das sei, als würde man ein Aquarium aufwärmen und auf diese Art Fischsuppe zubereiten. Der umgekehrte Weg, nämlich aus der Suppe wieder ein Aquarium mit lebenden Fischen zu machen, der sei wesentlich schwieriger – ja eigentlich unmöglich.

Es war Basil Kerski, Leiter des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig, der am Sonntag bei der vom STANDARD mitorganisierten Debatte im Wiener Burgtheater an Wałęsa erinnerte, an den "vergessenen Architekten des neuen Europas", den "einfachen Elektriker mit dem hochintelligenten Humor".

Neues Biedermeier

"Was bleibt von 1989?" lautete die Grundfrage der Diskussion. Mit dem berühmt gewordenen Zitat Wałęsa wollte Kerski seine These illustrieren, wonach die Transformation den Menschen in den einst kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas enorm viel abverlangt hätte: "Nun erleben wir in Polen eine neue Biedermeierzeit. Die Menschen sind ermüdet von den historischen Umwälzungen", so Kerski.

Nach dreißig Jahren würden die Polen oder die Ungarn in relativen Wohlstandsgesellschaften leben. "Aber natürlich gibt es auch neue Ängste um diesen neuen Wohlstand" – und eine neue Sehnsucht nach dem Rückzug ins Private. Für Kerski erklärt das auch, warum 2015 in Polen eine Partei die Wahlen gewann, die sich konservativ gäbe, in Wahrheit aber den Pluralismus abschaffen wolle.

Gegen Ost-Bashing

Das Plädoyer für mehr Verständnis für die Gemütslage vieler Osteuropäer zog sich wie ein roter Faden durch die Diskussion, die von STANDARD-Redakteurin Lisa Nimmervoll moderiert und vom Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) sowie der Erste-Stiftung mitveranstaltet wurde. "Ich bin das Osteuropa-Bashing leid", brachte es der am IWM tätige Philosoph und Slawist Ludger Hagedorn auf den Punkt. "Es führt zu Solidarisierungseffekten und dazu, dass die Regime, die in der Tat zu kritisieren sind, gestärkt werden."

Oft wird osteuropäischen Ländern etwa mangelnde Solidarität in der Flüchtlingspolitik vorgeworfen. Doch auch die ungarische Schriftstellerin Noémi Kiss warnt vor Schwarzweißmalerei und verweist auf den rasanten wirtschaftlichen Wandel, der Anfang der 1990er-Jahre in den ehemals kommunistischen Staaten Einzug gehalten hat – und einen ebenso rasanten Mentalitätswandel nach sich zog: "Wenn westeuropäischer Kapitalismus plötzlich in Osteuropa ankommt, wenn plötzlich der kapitalistische Egoismus da ist – wie soll ich dann nicht egoistisch sein, wenn ich doch egoistisch sein muss?"

Geschenk Europa

In dieselbe Kerbe schlug Radek Knapp, in Warschau geborener österreichischer Schriftsteller und Philosoph: Mit dem ersehnten "Westen" sei der Kapitalismus gekommen, und mit ihm auch das Zauberwort "Leasing", das Kaufen auf Pump. Irgendwann käme immer der Moment der Abrechnung: "Inzwischen hat sich eine unglaubliche Verbitterung aufgeschaukelt." Polen sei oft ein geteiltes Land gewesen – im geopolitischen Sinn. "Nun aber hat sich das Land in Gewinner und Verlierer geteilt" – für Knapp eine der Ursachen für den Erfolg von Jarosław Kaczyński und seiner Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS).

Von 1989 bleibt aber auch die Erinnerung an einen demokratischen Aufbruch, der nicht nur Umwälzungen im Osten des Kontinents gebracht, sondern letztlich die Teilung ganz Europas beendet hat: "Wir haben bis heute nicht begriffen, dass uns durch die Ereignisse von 1989 Europa wieder geschenkt wurde", sagte der ehemalige Vizekanzler Erhard Busek. "Davor nämlich hat es Europa eigentlich gar nicht gegeben." (Gerald Schubert, 17.2.2019)