Als Aufstiegshilfe zu den sibirischen Skihängen rund um Priiskovy ...

Foto: Philipp Herfort

... dient Freeridern eine aufgemotzte Pistenraupe.

Foto: Philipp Herfort

Dieses Video liefert Anhaltspunkte, wie es ist, in Sibirien Freeriden zu gehen: ziemlich cool.

Philipp Herfort Photography

Neun Uhr in Priiskovy – Zeit für das tägliche Morgengrauen. Dunkelgrau ist der Himmel, hellgrau der rußige Schnee, silbergrau schimmern die Holzfassaden der maroden Häuser, die langsam an der Fensterscheibe des Skitaxis vorbeiziehen. Priiskovy, dieses kleine Dorf im sibirischen Niemandsland, hat an diesem winterlichen Morgen alle nur erdenklichen Grautöne zu bieten. Dazu die Autowracks und all der andere Schrott, der aus den Schneehaufen in den Vorgärten herauslugt. Aus dem Schlot des alten, kleinen Kohlekraftwerks mit den pechschwarzen Backsteinmauern weht eine dunkle Rauchfahne zum Schulhaus auf die andere Straßenseite hinüber. Nur die bunten Schulranzen der Kinder, die in dicken Wintermänteln mit Pelzkrägen zum Unterricht trotten, wollen nicht so recht ins farblose Straßenbild passen.

Drinnen, in der warmen Kabine des Skitaxis, herrscht eisiges Schweigen. Die Helme mit den Köpfen darunter schunkeln im Rhythmus der Schlaglöcher. Als die umgebaute Pistenraupe unter lautem Scheppern die letzten Häuser von Priiskovy hinter sich lässt, ist der eine oder andere Mitfahrer eingeschlafen. Kein Wunder. Spät war es tags zuvor geworden, ehe der Kleinbus endlich die schmale Holzbrücke am Ortseingang von Priiskovy erreicht hatte – nach acht Stunden Autofahrt durch Landschaften, die im flachen Licht der Wintersonne so weit, so eisig, so karg wirkten.

Klinisch sauber

Ein blaues Schild mit der weißen Aufschrift "The Bridge Of Don't Come Back" hatte die Gäste von Priiskovy bei der Brücke begrüßt. "Bolnichka Resort" war darüber zu lesen. "Resort" – was für Skitouristen, die gewöhnlich ihren Winterurlaub in Österreich verbringen, nach einem komfortablen Doppelzimmer und einer großzügigen Spa-Landschaft klingt, steht 5.000 Kilometer östlich von Moskau für ein umgebautes Dorfkrankenhaus mit Mehrbettzimmern, dünnen Bretterwänden dazwischen, WC und Dusche auf dem Gang, aber alles klinisch sauber, auch der Linoleumboden.

Damit kein falscher Eindruck entsteht: Das "Bolnichka" mit dem roten Kreuz über dem Eingang ist gemütlich – anders gemütlich. Es hat einen offenen Kamin im Gastraum, in dem einfaches, aber gutes Essen serviert wird. In allen Räumen ist es kuschelig warm. Es gibt sogar eine Sauna und einen Freiluft-Holzbottich mit heißem Wasser darin – der schönste Ort überhaupt, um bei minus 20 Grad in den prächtigen sibirischen Sternenhimmel zu schauen. Zumal Andrej, die gute Seele des "Resorts", auf Wunsch das Bier bis ans dampfende Wasser bringt.

Ein riesiges Skigebiet

Dazu beim Freeriden dieser extrem trockene Schnee. Als Anatoly, der Fahrer des Ratracs, am Morgen nach 40-minütiger Fahrt durch verschneite Birkenwälder sein Gefährt auf einer baumlosen Kuppe stoppt und mit einem Hupen das Signal zum Aussteigen gibt, knirscht es bei jedem Schritt laut unter den Skistiefeln. Die Schneekristalle flimmern in der Sonne vor einer grandiosen Mittelgebirgslandschaft, in der weder Liftstationen noch Gipfelrestaurants noch ähnliche von Menschenhand geschaffene Infrastrukturen das Auge stören. Keine Spur mehr von Morgengrauen – und anderen Ski- oder Snowboardfahrern.

Vor zwölf Jahren hat die erste Pistenwalze Tiefschneefreaks auf die 1.300 bis 1.500 Meter hohen Berge rund um die ehemalige Goldgräberstadt im Altai-Gebirge gebracht. Heute arbeiten sich an manchen Tagen vier oder fünf vollbesetzte Snowcats, wie die umgebauten Pistenraupen im Fachjargon heißen, nach oben. "Das Gebiet ist riesig", beruhigt Guide Evgeniy, der gutmütige Bär im orangefarbenen Snowboard-Outfit, seine Gäste. "Da gibt es für jeden ein freies Plätzchen." Er deutet mit einem breiten Grinsen reihum auf die Berge, von denen seine Kunden in den nächsten Tagen abfahren werden, deren Namen sie aber im nächsten Augenblick schon wieder vergessen haben. Dann zieht Evgeniy, der aus dem rund 200 Kilometer entfernten Nowosibirsk kommt und dort im Finanzbusiness sein Geld verdient, eine Linie in den frischen, unverspurten Schnee.

Mit und ohne Birken

Das Freeride-Gelände rund um Priiskovy bietet von allem etwas: baumfreie Teilstücke im obersten Teil und lichte Birkenwälder in den Bereichen darunter. Hardliner, die sich nur in 45 Grad steilen Rinnen im hochalpinen Gelände so richtig wohlfühlen, sind fehl am Platz. Man muss hier auch kein Kraftpaket sein, um richtig Spaß zu haben. Nach 300 oder 400 Höhenmetern enden die Abfahrten auf einem der vielen Wege, die ursprünglich für den Goldabbau angelegt worden waren. Bei den Bergfahrten bleibt genügend Zeit zum Regenerieren.

Das Mittagessen servieren Evgeniy und Anatoly, der aus dem noch weiter östlich gelegenen Jakutien stammt, unter freiem Himmel – heute bei minus 15 Grad. Die fühlen sich im Sonnenschein aber angenehm an. "Ab minus 30 Grad wird der Skibetrieb eingestellt", sagt Evgeniy, während er mit Anatoly die Plastikboxen mit Brot, Zwiebel, Käse und Zungenwurst auf dem Belag seines Snowboards anrichtet. Dazu gibt es aus Thermoskannen heißen Tee, Bouillon oder Glühwein. Einer der großen Pluspunkte von Priiskovy, erklärt Evgeniy beim sibirischen Winterpicknick, sei der frühe Wintereinbruch. "Ab Oktober schneit es hier regelmäßig und immer wieder kräftig." Deshalb zieht es inzwischen nicht nur Russen, sondern auch westeuropäische Freerider an diesen entlegenen Ort, von wo es nicht mehr weit in die Mongolei und nach China ist.

Makellose Hänge

Eine extrem geringe Skifahrerdichte und eine 100-prozentige Naturschneegarantie – das spricht für einen Ski-Trip im Frühwinter nach Priiskovy. Dafür sind die Tage ziemlich kurz. Es ist vier Uhr nachmittags, als Evgeniy seine Gruppe über einen abgeblasenen Bergrücken zum Startpunkt der Sundowner-Abfahrt führt. Mittlerweile hat es knackige 20 Grad minus. Aus dem Knirschen ist ein schrilles Quietschen beim Fußmarsch über den tiefgefrorenen Untergrund geworden. Bei den ersten Schwüngen im makellosen Hang dämmert es schon. Doch der Schnee ist von solch hoher Qualität, dass das diffuse Licht nicht weiter stört. Die Abfahrt endet bei einem imposanten Betonskelett. Daraus soll später einmal ein Hotel samt Skilifttalstation werden, erklärt Evgeniy. Ob das Projekt jemals realisiert wird, weiß niemand. Auch Finanzfachmann Evgeniy hat da seine Zweifel.

Dann gleiten der Guide und seine Begleiter über die schneebedeckten Straßen von Priiskovy, vorbei an Häusern, die man für verlassen hielte, wäre da nicht Licht in dem einen oder anderen Fenster. Hunde bellen den Fremden hinterher. Arbeiter mit Pelzmützen auf dem Kopf werkeln auf der wackeligen Hebebühne eines museumsreifen Lastwagens an der Stromleitung.

Bier und Wodka

In der warmen Gaststube des "Bolnichka" erzählt Matthias Andrä, der Organisator dieser Skireise ans Ende der Welt, Geschichten über Priiskovy. Dass das früher mal ein Gulag für japanische Kriegsgefangene war, in den Bergen bis 1996 Gold abgebaut worden ist und ein paar hundert Menschen bis heute hier wohnen. Wovon die denn leben würden, will einer seiner Zuhörer wissen. "Typisch deutsch, diese Frage – na, sie leben halt", lautet die Antwort des Russlandexperten.

Nach dem Abendessen fließen Bier und Wodka. Ein Hobbymusiker aus dem Rheinland gibt auf seiner Ukelele ein Lied nach dem anderen zum Besten. Der Dschingis-Khan-Klassiker Moskau darf nicht fehlen. Gläser schmeißt niemand an die Wand. Dafür tanzen schon bald die russischen und ausländischen Gäste auf den Tischen. Über Putin oder die Ukraine-Krise wird nicht diskutiert. Man trinkt lieber Brüderschaft und erzählt von seinen Freeride-Abenteuern. Und so nimmt die Feier ihren freien Lauf.

Merino und Buchweizen

Am nächsten Morgen schmerzen die Köpfe. Gezeichnet von der Nacht sitzen die "Sportler" schweigend rund um den Frühstückstisch, in Skiunterwäsche – man ist ja unter sich. Eine junge Moskauerin zelebriert ihren morgendlichen Auftritt im hautengen Outfit aus Merinowolle und schneidet das Obst klein, das sie aus der Hauptstadt importiert hat. Daneben stochert jemand anders etwas lustlos in der hausgemachten Kascha, dem graubraunen Buchweizenbrei.

Im Scheinwerferlicht stolpern wenig später die verkaterten Freerider zur brummenden Schneekatze, die auf der Hauptstraße wartet. Die meisten übermannt heute früher der Schlaf auf der Schaukelfahrt im Morgengrauen. Sie verpassen den magischen Moment, als die ersten Sonnenstrahlen die mit Raureif überzogenen Äste berühren und sie in filigrane Kunstwerke verwandeln.

Sibirischer Powder: der beste Wachmacher

Anatolys Hupen oben auf der Bergkuppe ist der Weckruf. Draußen beim Morgenappell bläst ein eisiger Wind in die blassen Gesichter. Eines fehlt. Ein am Vorabend besonders durstiger Mitreisender schläft noch friedlich in der warmen Kabine und wäre um ein Haar im Pistenbully wieder nach unten gefahren. Er hätte etwas verpasst.

Seit zwei Tagen hat es nicht mehr geschneit, wofür sich Evgeniy immer wieder entschuldigt und woran auch Anatolys Schamanen-Schneetanz am Vorabend nichts geändert hat. Trotzdem führt Evgeniy seine Gruppe in einen völlig unberührten Hang. Der ist länger als die anderen und mit bestem sibirischen Powder überzogen – einen besseren Wachmacher gibt es nicht. (Roland Wiedemann, RONDO, 24.2.2019)