Antisemitismus war mitunter ein Grund, warum Abgeordnete diese Woche die Labour-Partei verließen.

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Die abtrünnigen Labour-Abgeordneten: Anna Soubry, Sarah Wollaston, Heidi Allen, Joan Ryan, Angela Smith, Luciana Berger, Ann Coffey, Chris Leslie, Gavin Shuker, Chuka Umunna und Mike Gapes.

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Am Montag verabschiedeten sich sieben Abgeordnete der britischen Labour-Party unter der Führung von Luciana Berger und Chuka Umunna. Sie haben es den Peterborough-Stadträten Richard Ferris und Matthew Mahabadi sowie dem Abgeordneten Ivan Lewis gleichgetan, welche die Arbeiterpartei bereits im Winter des Vorjahres verlassen haben. Sie hielten es für nunmehr unmöglich, als Juden weiterhin in der Partei zu verbleiben.

Im März 2018 organisierten der Jewish Leadership Council und das Jewish Board of Deputies eine Demonstration unter dem Slogan "Enough is Enough", zu der 1500 Personen, darunter einige Parteimitglieder, erschienen. Das letzte Mal, dass die jüdische Gemeinde zu einem derartigen Protest aufrief, war 1946, und richtete sich gegen die britische Restriktion der Migration Holocaust-Überlebender nach Palästina. Eine Umfrage vom September 2018 legt dar, dass 37,5 Prozent der britischen Juden Auswanderung ernsthaft in Erwägung ziehen würden, würde Jeremy Corbyn Premierminister werden.

Kultur des Antisemitismus

Die Antisemitismus-Skandale brodeln in der Labour-Partei seit Corbyn 2015 zum Vorsitzenden gewählt wurde, und sind nach jahrelanger Untätigkeit schließlich völlig übergelaufen. Mit Corbyn habe eine "Kultur des Antisemitismus" die Partei erfasst, lautet ein wichtiges Argument der Kritiker. Inhaltlich wurde dabei an die lange Tradition eines spezifisch linken Antisemitismus angeknüpft, der sich aus einem fetischistischen Antikapitalismus und, in seiner aktuelleren Form, aus der Feindschaft gegenüber Israel speist. Vor allem jüdische Parteimitglieder haben jahrelang für die Aufklärung und Sanktionierung antisemitischer Aussagen und Handlungen gekämpft und sind dabei weitläufig gescheitert. Einen entscheidenden Grund sehen sie in dem Unwillen der Parteiführung, sich dem Problem zu stellen.

"Bevor Hitler durchdrehte"

Dies hat bereits der Chakrabarti-Bericht zum Antisemitismus in der Labour Party von 2016 unter Beweis gestellt, der nicht nur stilistisch keinen Bericht lieferte, sondern sich auch inhaltlich nicht einem einzigen der Skandale widmete, die die Untersuchung ursprünglich veranlassten – von Ken Livingstones Behauptung, Hitler wäre, "bevor er durchgedreht ist und sechs Millionen Juden ermordet hat", ein Unterstützer des Zionismus gewesen, über Corbyns Aussage, Hamas und Hisbollah wären Bewegungen für soziale Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten, bis zum Facebook-Post der Abgeordneten Naz Shah, in dem sie vorschlägt, die Juden Israels in US-amerikanisches Staatsgebiet zu deportieren, um dem amerikanischen Steuerzahler Geld zu sparen.

Dass Naz Shah sich mit dem Thema israelbezogener Antisemitismus auseinandersetzte und sich glaubwürdig entschuldigte, ist eine Ausnahme in der Partei. Dass sie später selbst bei einer Veranstaltung als Jude beschimpft wurde, wohl eher nicht. Shami Chakrabarti wurde indes mit einem Sitz im House of Lords belohnt.

Realitätsverweigerung

Der Unwille, sich dem Antisemitismus-Problem zu stellen, hat sich als Unmöglichkeit entpuppt. Denn die Reaktion, die Kritiker auf diese Forderungen ernten, erscheinen als Realitätsverweigerung. Ein gängiges Argument lautet, es gäbe schlichtweg keinen Antisemitismus in der Partei, denn Antirassisten könnten nicht antisemitisch sein.

Während der Vorstellung des Chakrabarti-Reports hatte der Labour-Aktivist Marc Wadsworth der jüdischen Abgeordneten Ruth Smeeth vorgeworfen, Hand in Hand mit rechten Medien zu arbeiten, um Labour-Chef Corbyn zu Schaden. In den sieben Abgeordneten, die Labour verlassen haben, sah Momentum, eine Basisbewegung, die zur Unterstützung Corbyns gegründet wurde, ein paar Außenseiter, die sich in die "Zeit der Blair-Programme für Privatisierung, Steuerkürzungen für Reiche und die Deregulierung der Banken" zurückwünschten. Die Labour-Abgeordnete Ruth George suggerierte in einem Facebook-Post, dass die sieben Ausgetretenen von Israel bezahlt werden würden.

Verkappte Tories?

Jene, die den Antisemitismus in ihrer eigenen Partei also thematisieren und daraus Konsequenzen ziehen, sind verkappte Tories und Handlanger Israels, die sich mit rechten Medien gegen Corbyn verschworen haben, um günstige Umstände für ihre Geldgier und Ausbeutung zu schlagen. Die Reaktion auf den Vorwurf der Judenfeindschaft ist also selbst eine antisemitische Verschwörungstheorie, in der die Juden schon immer als übermächtige Vertreter des Internationalismus und Finanzkapitals gegen den aufbegehrenden "kleinen Mann" gelten. Weil nach Auschwitz wenige noch mehr von "den Juden" sprechen möchten und sich Linke in der geopolitischen Konstellation mit "den Unterdrückten" identifizieren, wird Israel zum absoluten Feind mit mystischer Macht.

Ein antiimperialistisches Weltbild ist auch bei Corbyn bestimmend – nicht zufälligerweise verweigerte er eine Verurteilung des theokratischen iranischen Regimes und eine Solidarisierung mir der iranischen Bevölkerung, als diese um die Jahreswende 2017/2018 massenweise auf die Straßen ging. Die kapitalistischen Eliten regieren in diesem Verständnis auch die Europäische Union, weswegen Corbyn im Gegensatz zu einem erheblichen Teil seiner Unterstützer einen EU-Austritt Großbritanniens nie abgelehnt hat.

Independent Group – neue Partei?

Am Tag nach der der Gründung der "Independent Group" ist auch die Abgeordnete Joan Ryan aus der Partei ausgetreten, und es ist zu erwarten, dass weitere folgen werden. Auch das Jewish Labour Movement, das nächstes Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiern sollte, wird nächsten Monat ein Treffen abhalten, bei dem die Zukunft der Gruppe in der Partei diskutiert werden soll. Ob die Diskussionen um den Antisemitismus die Wähler abschrecken wird, ist jedoch zu bezweifeln. Eher wird dabei das Thema Brexit entscheidend sein, bei dem sich laut einer Umfrage vom 2. Jänner immerhin 72 Prozent der Parteimitglieder ein zweites Referendum wünschen. In der gegenwärtigen Ungewissheit der britischen Politik bleibt es schwierig, Aussagen über die Zukunft zu treffen. Nur, dass der Antisemitismus, solange Corbyn an der Parteispitze steht, bleiben wird, darüber sind sich die meisten britischen Juden einig. (Lisa Bertel, 21.2.2019)