Illustration: Michaela Köck

MYTHOS 1: "Österreich kann keine weiteren Zuwanderer mehr aufnehmen"

Manche Behauptungen wirken auf den ersten Blick überzeugend, entpuppen sich bei näherer Betrachtung aber als höchst vieldeutig. Die Aussage, in Österreich lebten zu viele Migranten, ist eine solche. Denn natürlich wäre es organisatorisch möglich und ökonomisch tragbar, mehr Zuwanderung zuzulassen, schreiben der Volkswirtschafter Jörn Kleinert und der Finanzwissenschafter Daniel Reiter.

Dem Nichtkönnen liegt demnach ein anderes Kriterium als das wirtschaftliche zugrunde: die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Kleinert und Reiter schreiben von einem "Migrationsschock" durch die Fluchtbewegung 2015/2016.

Diese kollektive Angstreaktion berge politische Gefahren. Der US-Wirtschaftshistoriker Jeffrey G. Williamson habe Ähnlichkeiten zwischen der Phase vor dem Ersten Weltkrieg und der Jetztzeit festgestellt. Damals wie heute gebe es große Globalisierungsgewinne, die jedoch hauptsächlich reichen Menschen zukämen. Ärmere fühlten sich abgehängt – und hätten dadurch die Toleranz gegenüber Zuwanderern verloren.

Es geht um die Flüchtlinge

Doch um wen handelt es ich bei diesen Migranten überhaupt, die – so die Behauptung – das Land zu überlasten drohen? Fachkräfte aus der EU oder aus Drittstaaten können es angesichts des beklagten Mangels an Handwerkern, Pflegenden und Mitarbeitern im Tourismus nicht sein. Also müsse es sich um Flüchtlinge handeln, schreiben Kleinert und Reiter.

Um die Auswirkungen von Fluchtbewegungen auf den Arbeitsmarkt aufzudecken, vergleichen sie die Zuwanderung während der Jugoslawienkriege 1991/92 und jene 2015/2016. Die erste Einwanderungsbewegung habe die Arbeitslosenquote nicht negativ beeinflusst, schreiben sie und beziehen sich dabei auf eine Studie der Wirtschaftswissenschafterin Gudrun Biffl. Für jene von 2015/2016 gebe es Prognosen: Hätten sich rund 100.000 Asylanträge jährlich fortgesetzt und wären die Anerkennungsraten gleich geblieben, hätte es 2020 mehr Jobkonkurrenz unter Geringqualifizierten gegeben. Die Wirklichkeit strafte dieser Vorhersage Lügen: Die Asylantragszahlen gingen 2018 auf 13.400 zurück.

Illustration: Michaela Köck

MYTHOS 2: "Millionen Afrikaner werden nach Europa kommen"

An der Quelle der Ängste steht die Demografie. Europa mit seinen alternden und schrumpfenden Bevölkerungen grenzt im Süden, nur durch das Mittelmeer mit den Bootsflüchtlingen getrennt, an sein demografisches Gegenstück: Afrika, das heute 1,2 Milliarden Einwohner hat – und laut Prognosen 2100 4,4 Milliarden Bewohner haben wird.

Und diese Bevölkerungen sind extrem jung, vor allem in Subsahara-Afrika, jenem ärmsten Teil des Kontinents, der sich zwischen dem arabisch-islamischen Nordafrika und der Republik Südafrika befindet. Rund 63 Prozent der dortigen Menschen seien jünger als 24 Jahre, referiert der Autor des Beitrags und Koherausgeber des vorliegenden Buches, der Soziologe Max Haller, aus Uno-Quellen. Zum Vergleich: 2017 waren in Österreich laut Statistik Austria 2017 nur 19,5 Prozent aller Menschen jünger als 20 Jahre.

Migrationsbereit sind viele

Hinzu kommen die Ergebnisse von Studien über die Migrationsabsichten von Afrikanern. Laut einer zwischen 2007 und 2010 durchgeführten Umfrage des US-Meinungsinstituts Gallup trugen sich in Subsahara-Afrika 36 Prozent aller Erwachsenen mit Auswanderungsplänen.

Aber werden alle migrationsbereiten Afrikaner tatsächlich Richtung Norden aufbrechen? Eine durch das niederländische Institut für Demografie unter anderem in Ghana durchgeführte Befragung spricht dagegen. Zwar bekundeten 41 Prozent aller Ghanaer die Absicht, ihr Land zu verlassen. Doch auf die Frage, ob sie das innerhalb der kommenden zwei Jahren planten, antworteten nur 13 Prozent mit Ja. Und lediglich acht Prozent gaben an, dafür schon aktuelle Schritte unternommen zu haben.

Prognosen über die tatsächlich zu erwartende Zuwanderung aus Afrika seien unmöglich zu erstellen, schließt Haller aus all dem. Seinem Rat, die EU möge mit afrikanischen Staaten zusammenarbeiten, um Bedingungen zu schaffen, die mehr Afrikaner zum Daheimbleiben animieren, schließt er einen "paradoxen" Vorschlag an: Erleichterte Einreisemöglichkeiten, die auch zwischenzeitliche Heimreisen ermöglichen, könnten den Migrationsdruck aus Afrika letztlich senken, schreibt er.

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MYTHOS 3: "Zuwanderung erhöht Kriminalität und straft Integrationschancen Lügen"

Die Mythen, die sich um die sogenannte Fremdenkriminalität ranken, beginnen laut den Rechts- und Kriminalsoziologen Walter Fuchs und Arno Pilgram bei dem Begriff selbst. In ihrem Beitrag setzen sie ihn unter Anführungszeichen, "weil er als solcher eine unausgesprochen problematische Qualifizierung dieser Kriminalität vornimmt".

Wie das? Wenn man begrifflich sozusagen mit dem Finger auf das zur Anzeige gelangte Verhalten von Nichteinheimischen weise, unterschlage man, dass durchaus ähnliche Normverletzungen Hiesiger in vielen Fällen folgenlos blieben, schreiben die Autoren. So sei etwa anzunehmen, dass die Kriminalität anMigranten unterschätzt, jene von Migranten hingegen überschätzt werde.

Damit sprechen Fuchs und Pilgram das Messen mit zweierlei Maß an, das sich – um ein anderes Beispiel zu nennen – etwa im Zuge der #MeToo-Debatte manifestiert hat. Die nun vieldiskutierten sexuellen Übergriffe wurden zuvor als normales Verhalten unter den Teppich gekehrt.

Mit Statistik gegen Irrtümer

Abgesehen von derlei der Kriminologie eigenen Relativierungen weisen die Autoren auf statistisch widerlegbare Irrtümer hin. Der Anteil der sogenannten Fremdenkriminalität an der Gesamtkriminalität steige derzeit allein schon deshalb, "weil der Bevölkerungszuwachs in Österreich gegenwärtig de facto ausschließlich auf Migration zurückgeht".

Hinzu komme, dass sich hierzulande mehr Ausländer aufhielten, als es die Zahlen niedergelassener Nichtösterreicher verrieten. So habe sich etwa die Zahl von Touristenübernachtungen in Wien seit 20 Jahren verdoppelt. Werde ein "mobiler Fremder" angezeigt, wirke sich das auf die sogenannte Fremdenkriminalität aus.

Zuletzt widersprechen Fuchs und Pilgram auch der These, dass kriminelles Verhalten von Ausländern der in sie gesetzten "Integrationserwartung" widerspreche. Mehr Anzeigen könnten auch ein Hinweis auf eine Normalisierung der Kriminalitätsrate von Ausländern sein. Etwa, wenn es in Migrantenfamilien der zweiten Generation mehr Anzeigen wegen häuslicher Gewalt gebe, weil die Frauen nicht mehr länger schweigen.


Illustration: Michaela Köck

MYTHOS 4: "Die meisten Migranten sind Muslime"

Über den Islam werde in Europa großteils abschätzig gesprochen, schreiben die Soziologen Wolfgang Aschauer und Lena Stöllinger zusammen mit dem Journalisten Florian Gann in ihrem Beitrag des Antimythenbuchs. Beginnend mit den Anschlägen vom 11. September 2001 hätten sich im christlichen Abendland "diffuse Ängste vor Fundamentalismus, Terrorismus und vor einer schleichenden Islamisierung der Gesellschaft" breitgemacht.

Dementsprechend überschätzt werde die Zahl im Lande lebender Muslime. In Deutschland hätten Befragte deren Bevölkerungsanteil 2016 laut einer Studie des Marktforschungsinstituts Ipsos mit 21 Prozent angegeben; tatsächlich habe er zwischen 5,4 und 5,7 Prozent betragen.

Für Österreich gibt es derlei Umfragen bisher nicht. Die Zahl im Land lebender Angehöriger der islamischen Religion wird auf 700.000 Menschen geschätzt, das sind acht Prozent der Bevölkerung. 200.000 von ihnen dürften als Nachfahren von türkischen Gastarbeitern und bosnischen Flüchtlingen bereits österreichische Staatsbürger sein. Unter den Flüchtlingen hingegen, die großteils aus islamisch dominierten Gesellschaften kommen, gebe es "eine starke Dominanz von Muslimen".

Christen bleiben in der Mehrheit

Wird die Zahl der Muslime im Land künftig "rasant steigen", wie mancher befürchtet? Auf Grundlage einer Szenarienstudie der Demografin Anne Goujon lautet die Antwort: Nein. Bis 2046 wird sich der muslimische Bevölkerungsanteil bei geringer Zuwanderung auf zwölf, bei starker Zuwanderung auf 21 Prozent erhöhen. "Christen werden weiterhin über viele Jahrzehnte mit Abstand die bevölkerungsstärkste Glaubensgruppe blieben", schreiben die drei Autoren.

Auch der Furcht vor "fortschreitender Islamisierung unter Muslimen" erteilen sie eine Absage. Zwar habe eine Studie der Politikwissenschafter Peter Filzmaier und Floh Perlot 2017 unter tschetschenischen, somalischen und afghanischen Migranten in Österreich besonders stark ausgeprägte Religiosität festgestellt. Doch der Vorstellung einer Islamisierung in Österreich widerspreche allein schon der Umstand, "dass Muslime im politischen Leben kaum präsent" seien. Das jedoch sei gefährlich: Es könne antidemokratische Tendenzen unter den Muslimen befeuern. (Irene Brickner, 22.2.2019)