Aus der letzten IS-Bastion in Syrien, Baghouz, werden Kinder evakuiert, viele davon aus IS-Familien.

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Ein Frachtflugzeug, aus dessen Bauch eine Gruppe von kleinen Figuren die Treppe herunterklettert, in dicke Wintermäntel gehüllt, manche mit einem Spielzeug im Arm: Vier bis dreizehn Jahre sind die 27 Kinder alt, die Anfang Februar aus dem untergegangenen IS-"Kalifat" nach Russland gebracht werden. Die älteren sind noch dort geboren, die kleinen im Irak oder in Syrien zur Welt gekommen.

Russland ist eines der wenigen Länder, die die Rückkehr ihrer Staatsangehörigen offensiv betreiben. Sie werden meist nach Tschetschenien gebracht, wo sich Präsident Ramzan Kadyrow als Wohltäter erweisen kann – wenn denn die Bilder stimmen.

Es gibt keine verlässlichen Zahlen zu den "Kindern des Islamischen Staats", niemand weiß, wie viele es wirklich sind. Auf alle Fälle sind es viele Tausend: Laut Schätzungen waren gute zehn Prozent aller in den Jihad Gezogenen – oder Mitgenommenen – minderjährig. Dazu kommen die später dort Geborenen: Um das Phänomen ermessen zu können, ist eine Zahl in einer Studie der Quilliam Foundation aus dem Jahr 2015 hilfreich: 31.000 Frauen, die als IS-Angehörige galten, sollen damals schwanger gewesen sein. Die Nachkommen der aus dem Westen in den Jihad gezogenen Männer und deren Frauen, die nun thematisiert werden, sind nur ein kleiner Teil.

Generation von Staatenlosen

Laut "Save the Children" soll es in syrischen Lagern derzeit etwa 2500 Kinder geben, die – beziehungsweise deren Eltern – aus 30 bis 40 Ländern kommen. Aber noch viel mehr Kinder leben in Syrien und im Irak einfach auf der Straße, auch Kinder von syrischen oder irakischen Müttern. Ausländische IS-Kämpfer wurden häufig mit lokalen Frauen "verheiratet", oft unter ihren Alias-Namen. Da für arabische Staaten in der Regel die Staatsbürgerschaft am Vater hängt, sind diese Kinder eine heranwachsende Generation von Staatenlosen. Manche haben IS-Papiere: Man muss sich das vorstellen, eine Geburtsurkunde, ausgestellt von einer Terrororganisation. Es ist ein rechtliches Vakuum. Laut der Kinderrechtskonvention gibt es auch für Kinder ein Recht auf Staatsbürgerschaft: aber auf welche?

Es ist eine völlig neue Herausforderung. Die Erfahrungen, die bei der Rehabilitierung von Kindersoldaten weltweit gesammelt wurden, sind hier nur begrenzt einsetzbar. Die Kinder sind oft noch sehr jung: Und dennoch gibt es auch die vom IS ganz bewusst als Propagandamaterial in Umlauf gebrachten Videos, wo auch ganz Kleine Verbrechen verüben. Sind sie traumatisiert oder gefährlich, Opfer oder "tickende Zeitbomben"? So werden sie vor allem von jenen genannt, die sie aus welchem Land auch immer draußen halten wollen.

Fortbestand des "Kalifats"

Der IS legte großen Wert auf diese nachwachsende Generation, die "Löwenjungen", die den Fortbestand des "Kalifats" garantieren sollten. Eine Studie des Carter Center von 2017 beschäftigt sich mit IS-Propagandamaterial, das Indoktrinierung und Mobilisierung von Kindern zeigt. Sie absichtlich Gewaltszenen auszusetzen gehörte dazu. Bewusste Desensibilisierung, Gewalt als Lebensstil. Aus den Lagern wird von der Verhaltensauffälligkeit vieler Kinder berichtet. Auf Middle East Eye erzählt eine türkische Mutter von ihrem siebenjährigen Buben, den sein Vater vier Jahre zuvor verschleppt hatte: Als er sich über seine Stiefschwester ärgerte, versuchte er sie zu erschießen.

Der Irak hat das Phänomen der Jihadistenkinder schon in einem geringeren Ausmaß nach dem Bürgerkrieg 2006 bis 2008 erlebt, den die Vorgängerorganisation des IS (Al-Kaida im Irak, später auf "Islamischer Staat im Irak" umbenannt) angezettelt hatte. Nun kommt die nächste Welle.

Auch in irakischen Lagern leben heute männerlose IS-Familien – oft noch immer an der Seite von IS-Opfern. Behörden und Justiz sind völlig überfordert. Human Rights Watch berichtete im_Jänner von Folterungen von Kindern im Irak, um Geständnisse ihrer IS-Zugehörigkeit zu erpressen, auch in den kurdischen Gebieten (die kurdischen Behörden dementieren das).

Die IS-Führung ist irakisch dominiert, und auch unter den derzeit in Syrien in der letzten IS-Bastion Baghouz festgenommenen Jihadisten sind viele Iraker. Eine_Gruppe von 150 Kämpfern mit ihren Familien wurde erst am Donnerstag in den Irak überstellt, berichtet Middle East Eye.

Prozessdauer vier Minuten

Ist bei ihnen die Zugehörigkeit zur Terrororganisation wohl eindeutig, ist das nicht bei allen in den Lagern Internierten der Fall. Eine verheerende Beschreibung der irakischen IS-Justiz liefert ein Artikel von Ben Taub im New Yorker im Dezember: Ein Prozess, an dessen Ende ein Todesurteil steht, dauert oft nicht mehr als vier Minuten.

Es gehe um Rache, bestätigt ein hoher Sicherheitsbeamter dem Autor. Vor Gericht werden die Verdächtigen nur der Form halber gestellt, die Verurteilungsrate liege bei 98 Prozent. Die Frage, ob hier nicht der Boden bereitet wird für etwas, das noch schrecklicher sein wird als der IS – auch wenn man sich das nur schwer vorstellen kann –, liegt auf der Hand. (Gudrun Harrer, 22.2.2019)