Das Foto der beiden Ermordeten wurde zur Ikone des Gedenkens – und zum Symbol des Protests gegen einen Filz aus Politik und Geschäftemacherei. Vor dem Jahrestag des Verbrechens wurde es an das Rathaus von Bratislava projiziert.

Foto: AFP / Vladimír Šimíček

Immer noch ist der kleine Tisch neben der Rezeption übersät mit Kerzen. An der Wand dahinter lehnt großformatig das Foto eines jungen Paares, Wange an Wange, ein Bild, das sich längst eingraviert hat ins kollektive Gedächtnis der Slowakei. Die improvisierte Gedenkstätte lässt innehalten. Gerade deshalb, weil sie nicht so recht passen will in den Eingangsbereich des gesichtslosen Bürogebäudes an einer siebenspurigen Ausfallstraße in Bratislava. Genauso wenig, wie der Mord am Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová zur Slowakei passen will, einem EU-Mitgliedsland im Herzen Europas, das gerne stolz wäre auf seine erst 30 Jahre junge Demokratie und seinen beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung.

Einen Stock weiter oben, in der Redaktion des Onlinemagazins aktuality.sk, stand einmal Ján Kuciaks Schreibtisch. Von hier aus recherchierte Kuciak über Verbindungen zwischen Mafiaclans, zwielichtigen Geschäftsleuten und korrupten Politikern. Bis zum 21. Februar 2018, dem Tag, an dem er und seine Verlobte in ihrem kleinen Haus in Veľká Mača, keine 50 Kilometer östlich von Bratislava, ermordet wurden. Der Killer schoss wohl zuerst der 27-jährigen Martina in den Kopf. Die Archäologin war zur falschen Zeit am falschen Ort. Anschließend tötete er Ján, ebenfalls 27, durch zwei Schüsse in die Brust. Erst nach vier Tagen, an einem Sonntag, wurden die Leichen gefunden. Am Montag wurde die Nachricht publik – und erschütterte die Slowakei in ihren Grundfesten.

"Ich war der Chef Ihres Sohnes"

"Es war einer der schwierigsten Tage meines Lebens", erinnert sich Peter Bárdy, der Chefredakteur von aktuality.sk. Ein Jahr nach der Tat wirkt er wieder energisch und selbstbewusst. Er ist einer, der nicht mehr lange nach Worten suchen muss – weil er über die Geschichte schon oft gesprochen und noch viel öfter nachgedacht hat. Damals aber, als er Jáns Eltern anrief, hätte ihn beinahe die Kraft verlassen: "Ich musste ihnen sagen: Ich bin Peter Bárdy, ich war der Chef Ihres Sohnes. Und ich habe wohl nicht alles getan, um ihn zu schützen."

Bis heute ist Bárdy mit Jáns Eltern und Geschwistern in Kontakt. Manchmal treffen sie einander mehrmals pro Woche: "Sie gehören zu unserem Team, und wir gehören zu ihrer Familie", sagt er. "Wir", das sind für Bárdy all die Kolleginnen und Kollegen in seinem Haus, die regelmäßig über die Ermittlungen schreiben, über Korruptionsnetzwerke, die mit Jáns Tod zu tun haben könnten, und darüber, wie dieser Tod das Land verändert hat.

Erfolg der Ermittler

Gerade über letztere Frage wird in der Slowakei ein Jahr nach dem Mord häufig diskutiert. Sie ist allerdings vielschichtig, und entsprechend vielfältig sind die Antworten. Dass seit September vier Tatverdächtige in Untersuchungshaft sitzen, hat dem Vertrauen in die Behörden zunächst viel Auftrieb gegeben. Bei den Inhaftierten soll es sich um den mutmaßlichen Todesschützen – einen ehemaligen Polizisten – handeln, um einen Fahrer, einen Mittelsmann sowie um die 44-jährige Alena Z., die Kontakte zu zwielichtigen Geschäftsleuten pflegte, Politiker umgarnte und laut Staatsanwaltschaft den Mord in Auftrag gegeben hat. Zumindest soll sie die 70.000 Euro für die Todesschüsse bezahlt haben. Chefredakteur Bárdy ist für die Polizei voll des Lobes: "Den Leuten, die den Mord unter suchen, vertraue ich zu hundert Prozent." Dass mit Alena Z. auch die Keimzelle des Komplotts gefunden wurde, daran glaubt jedoch kaum jemand. Schon gar nicht Peter Bárdy. Das sorgt für Unbehagen.

Im Zusammenhang mit der Suche nach Hintermännern taucht immer wieder der Name des Geschäftsmanns Marián Kočner auf. Dieser sitzt wegen Finanzdelikten, zu denen ausgerechnet Ján Kuciak recherchiert hatte, ebenfalls in U-Haft. Davor wohnte der skandalumrankte Unternehmer, der ein Naheverhältnis zu Alena Z. hatte, in einer Luxusresidenz in Bratislava – Wand an Wand mit dem damaligen Premier Robert Fico. Ein ehemaliger slowakischer Geheimdienstchef hat mittlerweile ausgesagt, er habe Kuciak im Auftrag Kočners beschattet. Und: Kočner hat Kuciak wegen dessen Recherchen 2017 bedroht. Kuciak erstattete Anzeige. Passiert ist nichts.

"Soros-Narrativ"

Wer den Klub pod lampou am Rande der Innenstadt betritt, sieht ebenfalls sofort das zur Ikone gewordene Foto von Ján und Martina. Gleich beim Eingang steht es auf der Bar: schwarzer Trauerflor in der Ecke, daneben eine gelbe Blume in einer Flasche. Das Lokal ist ein Treffpunkt jener meist jungen Leute, die vor einem Jahr die Bürger bewegung "Für eine anständige Slowakei" gegründet haben. Einer von ihnen ist der Jurist Juraj Šeliga, der für sein Engagement erst einmal die Arbeit an seiner Disser tation unterbrochen hat.

Im Februar 2018 hätten er und seine Mitstreiter zunächst bloß einen Gedenkmarsch organisiert. Aber dann, so Šeliga, kam Robert Fico mit dem "Soros-Narrativ" um die Ecke. Soll heißen: Fico, Chef der links populistischen Partei Smer, tat es Viktor Orbán, dem rechtspopulistischen Premier Ungarns, gleich und präsentierte der Öffentlichkeit eine Verschwörungstheorie, wonach der ungarischstämmige US-Milliardär George Soros der wahre Strippenzieher hinter den Protesten sei – freilich mit dem Ziel, ihn, Fico, aus dem Amt zu jagen.

"Wenigstens ein bisschen Selbstreflexion hätten wir erwartet", sagt Šeliga. Als dann kurz nach dem Mord auch noch die letzten Recherchen Kuciaks veröffentlicht wurden, in denen es um EU-Subventionsbetrug und Verbindungen der kalabrischen Mafia ins unmittelbare Umfeld des Regierungschefs ging, nahmen die Proteste in den Straßen so richtig Fahrt auf. Polizei präsident Tibor Gašpar, Innenminister Robert Kaliňák und Premier Fico hielten dem Druck nicht mehr stand und traten zurück.

Expremier im Hintergrund

Juraj Šeliga ist viel in den Regionen unterwegs. Überall im Land sei im vergangenen Jahr das Interesse an Politik gestiegen: "Unsere Bewegung und die Empörung über den Mord haben sich nie auf Bratis lava beschränkt", erklärt er. "Das ist wichtig, damit niemand die Proteste als Angelegenheit von ein paar urbanen Kaffeehausdiskutierern abtun kann." Expremier Fico, der kritische Journalisten einmal als "antislowakische Huren" bezeichnet hat, schickt sich nun an, Chef des Verfassungsgerichts zu werden. Šeliga und seine Freunde haben mit einem Großbildschirm in mehreren Gemeinden ein Public Viewing der Kandidatenhearings organisiert: "Die Leute bleiben tatsächlich stehen und sehen sich das live an." Nun, vor der Präsidentschaftswahl im März und der EU-Wahl im Mai, stehe die Slowakei am Scheideweg, glaubt Šeliga. Staatsoberhaupt Andrej Kiska, der der Regierung kritisch gegenübersteht, tritt bei der Präsidentschaftswahl nicht mehr an.

Ficos Nachfolger im Amt des Premiers wurde im März 2018 sein Parteikollege Peter Pellegrini. "Der zeigt uns ein nettes Gesicht, aber er hat keine politische Macht", glaubt Šeliga. Mit der Einschätzung, dass immer noch Smer-Chef Fico im Hintergrund die Fäden zieht, steht er nicht allein da. "Pellegrini ist eine Marionette", sagt auch Grigorij Mesežnikov, Leiter des Ins tituts für öffentliche Angelegenheiten in Bratislava. Was sich aber geändert habe, das sei die Stimmung im Land: "Die Leute haben die Erfahrung gemacht, dass sie tatsächlich etwas bewirken können", so Mesežnikov.

Weit verzweigtes Netzwerk

In der Redaktion von aktuality.sk brüten Ján Kuciaks Kollegen indes über einer komplizierten Netzwerkgrafik. Sie soll all die Querverbindungen zwischen Geschäftsleuten und Politikern darstellen, die mit Jáns Tod in Verbindung gebracht werden. Etwas weiter hinten: Jáns Schreibtisch. Nach dem Mord ist er längere Zeit leer geblieben. "Mittlerweile benutzen wir ihn aber wieder", sagt Chefredakteur Bárdy. "Schließlich müssen wir ja weitermachen." (Gerald Schubert, 23.2.2019)