Normalerweise entschuldige ich mich nicht für die Qualität der Fotos dieser Kolumne. Zum einen, weil ich kein Fotograf bin: Ich fotografiere beim Laufen mit einer Actioncam (derzeit: die Gopro 7) nach dem Pumpgun-Prinzip. Ich visiere das Motiv nicht präzise an, sondern richte das Weitwinkelobjektiv ungefähr auf das, was ich fotografieren will, und drücke auf Dauerfeuer.

Bei Actioncams macht der Kamerachip den Rest: Die Bilder sind also auch Zufallsprodukte. Wenn es (noch) dunkel ist, kann das seltsame, spannende oder verheerende Ergebnisse haben. In jedem Fall aber sind die Fotos eines: keine Profibilder. Das Vorweg.

Foto: thomas rottenberg

Manchmal geht es aber ohnehin nur um die Geschichte. Ums Erlebnis. Um den Moment. Und wenn ein Lauf um sechs Uhr morgens beginnt und es in Wien da noch zappenduster ist, kann man entweder gar keine Fotos machen – oder aber man nimmt Grieseln, Auspixeln, Verwackeltes und "Blair Witch Project"-Bilder in Kauf, kommuniziert das denen, mit denen man unterwegs ist offen – und freut sich, dass diese Leute sich dennoch über die Bilder freuen: weil Authentizität auch ein Wert ist. Erst recht, wenn man etwas Neues oder Anderes als sonst erlebt. Etwa wenn man auf einer kurzen Morgenrunde durch Wien, also über die klassisch-touristische Standardrunde, geführt wird: Siterunning heißt das.

Foto: thomas rottenberg

Diese Geschichte beginnt früher. Vor ein paar Wochen schickte Harald Fritz eine Whatsapp-Nachricht in die Ausdauercoach-Vereins- und Trainingsgruppe: Ein Konzern – die Kion-Gruppe – , der für sein Executive-Meeting 450 Manager nach Wien bringen werde, suche für einen geführten Morgenlauf etwa zehn Guides. Es gehe darum, den Konferenzteilnehmern (großteils waren dann Männer mit uns unterwegs) in einer Drei- und einer Fünfkilometerrunde ein bisserl was von Wien zu zeigen. Pace und Programm würden noch besprochen.

Foto: thomas rottenberg

Natürlich sagte ich zu. Nicht wegen der Gage: Wien mit Gästen zu sehen ist immer auch für mich spannend. "At home he feels like a tourist" sang die Gang of Four einst. Das passt: Wer anderen sagt, wo sie hinschauen sollen, muss selbst die Augen aufmachen. Das hilft gegen Betriebsblindheit. Versuchen Sie es: Stellen Sie im Kopf einen Spaziergang oder -Lauf zusammen, auf dem Sie Besuchern ihr Grätzel zeigen. Historisch, kulinarisch oder sportlich: Sie werden staunen, was Sie selbst da plötzlich (wieder) sehen.

Foto: thomas rottenberg

Ich hatte nur eines übersehen: Wer um sechs mit einer Gruppe vom Hotel Hilton loslaufen will, muss um Viertel vor sechs für das Briefing da sein. Spätestens. Und dementsprechend früh von daheim losfahren.

Andererseits: Die Stadt gehört dann uns. Also der Gruppe. Uns ganz allein. Denn auch wenn Wien entlang der touristischen Haupt- und Trampelpfade mittlerweile immer öfter unpassierbar und fast schon unangenehm voll ist, ist um diese Zeit nicht nichts, sondern gar nichts los. Das ist eine echte Qualität, ein Asset. Und das Gute an Menschen im (Spitzen-)Management oder jungen Leuten mit dem High-Potential-Etikett ist, dass sie das verstehen – und goutieren: Wer Durchschnittserlebnisse will, braucht die Komfortzone nicht zu verlassen. Um das Besondere zu erleben, ist das anders: Die "extra nile" zahlt sich fast immer aus.

Foto: thomas rottenberg

Menschen durch Wien zu führen ist ein Beruf. Und Wiens Fremdenführer sehen es gar nicht gern, wenn Leute ohne Konzession in ihrem Teich plantschen. Nur: Die Konferenzveranstalter waren bei der Suche nach zehn professionellen Guides, die auch (und um diese Zeit) laufen würden, nicht weitergekommen. Und Harald hatte, sicherheitshalber, die Routen dann noch mit einer konzessionierten Fremdenführerin besprochen und ausarbeiten lassen: Die schiere Menge an Infos, die da im Briefing war, hätte sogar beim gemütlichem Gehen keine Zeit für Fragen gelassen. Beim Laufen? Schaun wir mal.

Foto: thomas rottenberg

Tempogruppen zu bilden ist bei so einem Stunt sinnlos. Sogar wenn die Teilnehmer wissen oder artikulieren können, mit welcher Pace sie frühmorgens ihre Runde drehen wollen, ist immer noch offen, ob sie durchlaufen oder hin und wieder stehenbleiben, Fotos machen oder Fragen stellen wollen. Genau an diesem Detail scheitern professionelle Site-Run-Anbieterinnen und -Anbieter regelmäßig: Es zerreißt die Gruppen, oft schon bei der ersten Sehenswürdigkeit. Ein zahlender Gast ist also relativ rasch sauer. Oder aber man bietet das Programm in Kleinstgruppen "on request only" an. Dann wird es teuer.

Foto: thomas rottenberg

Als Incentive-Element funktioniert es aber ganz hervorragend: Wir liefen los, sobald zehn Leute beisammen waren. In einer gemütliche Pace. Mit der Bitte, dass der Vorletzte sich melden solle, sobald der Letzte abzureißen drohe. Vor dem Start zeigt man zur Ringstraße und auf den Südturm des Stephansdoms als Orientierungspunkt ("Should you get lost: The Ringstraße is a circle around the center, it will lead you back home. Plan b: You head towards that spire – and once you reach it: eastsoutheast, the name of the street you need is Wollzeile, Cotton-Road.")

Mehr geht kaum. Aber natürlich ging trotzdem einer aus meiner Gruppe verloren: "Did we loose someone?", fragte ich beim Parlament. – "Yes." – "So let's wait a minute. I will run back to catch up with that guy." – "Well, that was quite some time ago …"

Der verlorene Sohn wurde von der nächsten Gruppe eingesammelt – und verlor auch die wieder. Aber: Schlimm fand das niemand.

Foto: thomas rottenberg

Die Route war denkbar einfach: Vom Hilton durch den Stadtpark (Strauss, Wiens Parks, ein bissi Jugendstil beim Wienflussportal). Dann an Eislaufverein und Musikverein vorbei: "What you will not find in any tourist-guide: Have a look at the building to our right. It is a school. Do you recognise that style? Yes, like british boardingschools. Or proper american WASP-Style. All fake, but it works. I went there – and learned only years later that I actually had attended Hogwarts."

Die Gruppe lachte. Und merkte sich sogar, dass das Akademische Gymnasium der Probebau für das Rathaus gewesen war. Denn dort kam dann prompt "Tom, this has to be the Rathaus then. It really looks very similar. But: Is this actually a skating-rink in front of it? Wow!"

Foto: thomas rottenberg

Davor kamen aber noch die anderen Klassiker: Konzerthaus, Karlsplatz, Karlskirche, Sezession, Abstieg in die Kanalisation (Nein, den dritten Mann kennt scheinbar niemand mehr. "Why the f_ck should anyone bother to walk down there in a sewer? Vienna is so beautiful up here!"), Café Museum, rüber zur Oper und zum Hotel Sacher: "Anna Sacher ran this place. It was infamous as a meetingpoint for the officers of our emperor's army with the dancers and singers of the opera and the theaters." – "Oh you mean a brothel?" – "No! Not a brothel!" – "Ok, a fast-pickup-place then. They did not have Tinder then …"

Foto: thomas rottenberg

Die offizielle Route hätte rund um die Oper wieder zum Ring geführt. Ich baute aber das Hrdlicka-Mahnmal ("You do not mention this chapter of your history in Austria nowadays too often any more, do you?") und die Albertinarampe ein und lief dann in den Burggarten: Das Tor vor dem Palmenhaus ist offen, auch wenn die Ringtore noch zu sind.

Foto: thomas rottenberg

Ein Wien-Kundiger in der Gruppe warnte mich davor – und staunte nicht schlecht, als wir dann bei den Parlamentscontainern den "geheimen" Durchgang zur Schatzkammer und zum Schweizerhof nahmen: Der einfache Trick, mit solchem Durchschlupfen Stadtkompetenz zu simulieren, funktioniert immer – aber dass der Durchgang um sechs Uhr früh offen ist, hatte ich sicherheitshalber vorher in der Burghauptmannschaft nachgefragt.

Foto: thomas rottenberg

Schweizertor, Michaelerkuppel ("Ah, the Spanish Riding school!") – und dann ein U-Turn: Am Heldenplatz ("Is this where Hitler declared your Anschluss?" – "Yes – but when the Viennese Philharmonics play their annual concert on the day of the defeat of Nazi-Germany here, the place is even more crammed." – "Good to hear."), die Statik des Reiterdenkmals, der Blick über die Parlamentscontainer ("Uh, how ugly – but only temporarily, right?") auf Kanzleramt, Präsidentschaftskanzlei, Parlament und Rathaus – und dann das äußere Burgtor.

Foto: thomas rottenberg

Die Geschichte von der Schleifung der Stadtmauern ("We learned that the wall was more an obstacle than a means of protection. It was bad for economy and development – so we tore it down about 150 years ago" – "Would you mind telling this Mr Trump?") und den unterschiedlichen Baustilen entlang der Ringstraße.

Foto: thomas rottenberg

Parlament, Burgtheater – und eben das Rathaus wären auf der offiziellen Route (Oper – Ring – Heldenplatz – Herrengasse) nicht dabei gewesen, aber ich hatte das Gefühl, meine Gruppe war mit den paar hundert Extrametern zufrieden. Nach dem Café Landtmann, vorbei an der Mölkerbastei, kamen wir auf die Freyung – zurück auf die offizielle Runde: "Cobblestone? Are you serious?" – "Yes. Part of this surface dates back to the middleages: They found it when they built a parkinglot underneath us – and decided to reuse it." Amerikaner fallen bei solchen Ansagen vor Ehrfurcht beinahe in Ohnmacht.

Foto: thomas rottenberg

Über den Hof ("Before the house of Habsburg the Babenbergers ruled the country. We know that their court was here – although: we do not know where exactly it was) zum "Golden Quarter" und dann mit Blick den Kohlmarkt entlang auf die Michaeler Kuppel ("Remember: the horses!"), den Graben ("The ditch? Seriously?") entlang: Die Pestsäule, das hatte ich noch nie bemerkt, wird von unten schön "barock" angestrahlt: "Oh my, what an amiable, clean and wealthy town you live in – no wonder you win all these quality-of-living-rankings."

Foto: thomas rottenberg

Vielleicht war es ja auch ein Fehler gewesen, den Südturm schon beim Start als Orientierungspunkt zu highlighten, weil er das Zentrum des Zentrums so unübersehbar markiert.

Dafür trafen wir hier eine der 3k-Gruppen: Sie hatten zwar die Ringvariante ausgelassen und waren von der Oper ziemlich direkt hierhergekommen – aber begeistert waren auch diese Morgenläufer: "The last time I was here, the place in front of the church was crowded beyond belief. There were too many people – and we were harrassed by some ticketvendors. But today is great!"

Foto: thomas rottenberg

Dass da zu wenig Zeit war, um in den Dom auch hineinzuhuschen, verstanden die Läufer meiner Gruppe. Ich war – und bin – nicht einmal sicher, ob der Dom um 6.30 Uhr in der Früh schon offen ist – wenn ja, ist das sicher eine gute Zeit für einen Besuch: Menschen, die um diese Zeit eine Kirche besuchen, sind meist (oder hoffentlich) kultiviert genug, um zu wissen, dass außer ihnen da vermutlich großteils Gläubige hier sind.

Draußen am Tor gibt es aber auch ein paar nette Details: Das "05" des österreichischen Widerstandes etwa. Oder die Ellen- und Brotmaße an der linken Seite des Heidentores: Die Geschichte vom Bäckerschupfen kommt immer gut an.

Foto: thomas rottenberg

Was auch immer wirkt, aber das hatten wir schon: statt um Häuser herum durch sie durchzulaufen. Etwa in die Domgasse. Mozarthaus, eh klar. Und dann vorbei an der Akademie der Wissenschaften zur Wollzeile. Zwischen den alten Stadtmauerresten (wieder: Amerikaner fallen kurz in Ohnmacht) durch auf den Luegerplatz. Der Hinweis auf den ebenso großen Antisemiten wie Bürgermeister Lueger löst eine kurze Diskussionen aus: "Why do you keep his statue?" – "Maybe they want to show that there is good and bad in everyone."

Foto: thomas rottenberg

Aber dann war da schon wieder der Stadtpark. Das MAK. Der Wienfluss. "Why is the riverbed so wide?" Die Geschichte von den Flüssen im Wienerwald und wie schnell das Flussbett sich auch heute noch füllt.

Mittlerweile ist es hell. Das Hilton liegt genau vor uns. Die Manager sind happy. "You love this city, do you?" Ich nicke: Ja, ich liebe diese Stadt – obwohl ich sie oft genug nicht ertrage. Genau deshalb tut es ja so gut, sich das Schöne hin und wieder selbst vor Augen zu führen. Etwa indem man es anderen zeigt. (Thomas Rottenberg, 27.2.2019)

Nachsatz: Die Gage (50 Euro) ging an Harald Fritz' Äthiopienlaufhilfeprojekt.

Die Route auf Garmin Connect

Foto: thomas rottenberg