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"Corbyn setzt sich für ein zweites Referendum ein", schreiben manche britischen Zeitungen an diesem Dienstag, und flüchtige Leser könnten meinen: Da hat die britische Oppositionspartei unter ihrem europaskeptischen Chef Jeremy Corbyn aber eine 180-Grad-Wendung hingelegt. In Wirklichkeit handelt es sich um eine verklausulierte Bekräftigung längst beschlossener Parteitagsbeschlüsse, also um eine vorsichtige Kursänderung um wenige Grad. Immerhin hat Labour damit die britische Brexit-Debatte verändert, vielleicht entscheidend.

Die Ursachen liegen in der Parteipolitik. Zum einen zeigt der Austritt von neun Fraktionsmitgliedern Wirkung. Deren Argument, wonach der weit links stehende Corbyn als Premierminister ungeeignet sei, nicht zuletzt wegen seiner zögerlichen Europapolitik, scheint beim Wahlvolk zu verfangen. Umfragen vom Wochenende sehen Labour mit riesigem Abstand zu den regierenden Tories (39) bei 23 bis 25 Prozent, und die neue Gruppe von Unabhängigen kommt auf respektable 15 bis 18 Prozent. Damit könnten die Abtrünnigen im britischen Mehrheitswahlrecht zwar wenig gewinnen, aber zu einer verheerenden Labour-Niederlage beitragen.

Innerparteilicher Druck

Zum anderen mussten sich Corbyn und seine engste Clique – allesamt EU-Gegner – dem innerparteilichen Druck beugen. Die Basis und Umfragen zufolge auch die Wählerschaft lehnen mit großer Mehrheit den Brexit ab und wünschen sich das zweite Referendum. Dieses bleibt nach wie vor unwahrscheinlich, weil sich im Unterhaus keine Mehrheit finden würde: Bei den Tories mag es zwar ein Dutzend Abgeordnete dafür geben; hingegen sind bei Labour mindestens zwei Dutzend Volksvertreter dagegen.

Dass Corbyn und sein kluger Brexit-Sprecher Keir Starmer nun aber mit der neuerlichen Volksabstimmung winken, könnte umgekehrt die konservativen Ultras zum Nachdenken bringen. Zwar wollen sie den klarstmöglichen Schnitt zwischen Großbritannien und dem Kontinent, einige reden sogar dem chaotischen Austritt ohne Vereinbarung das Wort. Zunehmend deutlich wird aber: Wenn die Brexit-Befürworter nicht bald den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Deal unterstützen, könnten sie am Ende mit leeren Händen dastehen.

Gefangene ihrer selbst

Beide Seiten sind auf deprimierende Weise ihren engen parteipolitischen Zielen verhaftet, vom nationalen Interesse ist höchstens in Spottform die Rede. Dabei bleibt für den kühlen Beobachter ganz klar: Am besten für alle Beteiligten wäre ein Verbleib der global aufgestellten, mit Atomwaffen und einem Sitz im UN-Sicherheitsrat ausgestatteten siebentgrößten Volkswirtschaft der Welt im gemeinsamen, sicherlich reformbedürftigen Club. Die einzigen Brexit-Gewinner sind Wladimir Putins Russland, die Nationalkommunisten in China und die protektionistischen USA von Donald Trump.

Labour und Tories haben viel zu lang gebraucht, um Schaden von ihrem Land und von Europa abzuwenden. Macht nichts. Auch auf verschlungenen Wegen kann man zum richtigen Ziel kommen. Wenn Labours Kursänderung wenigstens dazu beiträgt, das Chaos von Großbritannien und seinen Nachbarn abzuwenden, ist schon viel erreicht. Sollte tatsächlich die Verhinderung des Brexits gelingen, umso besser. (Sebastian Borger, 26.2.2019)