Leises Klingeln und ehrfürchtige Stille. So begann die Chanel-Show, auf die am Dienstagmorgen die Modewelt blickte. Es war die letzte Kollektion, die Karl Lagerfeld vor seinem Tod entworfen hatte. Das Setting: ein kleines pittoreskes Alpendörfchen, romantische Almhütten, der Boden mit (Kunst-)Schnee bedeckt und im Hintergrund die weißen Berge. Ohne Musik, begleitet nur vom zarten Glockengeläut, kamen die Models langsam und alle nacheinander aus dem Chalet Gardenia heraus und postierten sich davor. In dem Moment hielten die Zuschauer, darunter auch Claudia Schiffer und Naomi Campbell, den Atem an.

Karl Lagerfeld hatte sich keine Hommage gewünscht, dennoch sollte dies ein würdevoller Abschied werden. Nach einer bewegenden Schweigeminute hörte man aus den Lautsprechern eine Interviewsequenz des Modeschöpfers, in dem er über seine Anfänge bei Chanel sprach.

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Cara Delevingne eröffnete die Chanel-Show.
Foto: REUTERS/Regis Duvignau

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Hüttenromantik: Karl Lagerfeld liebte die Berge.
Foto: AP Photo/Thibault Camus

Erst danach fingen die Models an, über den Laufsteg zu schreiten und so ihre Spuren im Schnee zu hinterlassen. Eine schöne Metapher für die letzten Entwürfe von Karl Lagerfeld, die vor allem durch bodenlange Mäntel bestachen und elegante Marlene-Dietrich-Hosen, die hoch in der Taille sitzen. Daneben gab es Kleider und Röcke im Norwegermuster zu sehen, mondäne Tweedhüte und mit Teddyfell besetzte Schneestiefel. Extravagant waren vor allem die kurzen Dreiviertelleggings aus Tweed, die unter kurzen Kleidern getragen wurde.

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Foto: REUTERS/Regis Duvignau

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Unter den Models: die Schauspielerin Penélope Cruz.
Foto: REUTERS/Regis Duvignau

Beendet wurde die Show von Penélope Cruz in einem schneeweißen, kurzen Ballonrock und einer weißen Rose in der Hand. Eine diskrete, aber bewegende Inszenierung. Am Ende waren die Zuschauer wie gelähmt. Keiner bewegte sich vom Platz. Es war, als warteten alle darauf, dass Karl Lagerfeld doch noch auftreten würde.

Auch Virginie Viard, Lagerfelds Nachfolgerin, machte an diesem Morgen alles richtig. Bevor die Models ihre Abschlussrunde drehten, zeigte sie sich für ein paar Sekunden und verschwand dann fast unbemerkt wieder hinter der Tür des Chalets. An diesem Tag sollte nicht sie im Vordergrund stehen.

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Die Neue: Virginie Viard.
Foto: AP Photo/Christophe Ena

Die Personalie Viard war nach Lagerfelds Tod am 19. Februar von Chanel bekanntgegeben worden. Statt für einen Stardesigner und einen harten Schnitt entschied man sich mit der Französin für eine Unbekannte aus der zweiten Reihe. Virginie Viard, die langjährige Vertraute, die "rechte und die linke Hand" von Lagerfeld, ist die erste Frau seit Gabrielle "Coco" Chanel an der kreativen Spitze des Hauses. Sie ist nicht die Einzige aus dem alten Team, die aufrückte. Eric Pfrunder, er begann 1983 mit Lagerfeld bei Chanel, wird als "Artistic Director Fashion Image" das Erscheinungsbild der Marke steuern.

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Tränen bei den Models beim letzten Marsch.
Foto: REUTERS/Regis Duvignau

Die Entscheidung für zwei altgediente Mitarbeiter ist typisch Chanel. Das Modehaus setzt seit Jahrzehnten auf Beständigkeit, Treue wird belohnt. Karl Lagerfeld schaltete und waltete 36 Jahre lang für das Unternehmen, Virginie Viard begann 1987 als Praktikantin in der Haute Couture. Die heute 57-Jährige kennt jedes Schräubchen im Getriebe. Viard interpretierte Lagerfelds Skizzen, telefonierte täglich mit dem Kreativchef, betreute die Ateliers und beaufsichtigte die Castings.

Im letzten Jahr konnte man in der Netflix-Serie "7 Days Out" in der Folge über das Modehaus Chanel der Französin dabei zusehen, wie sie inmitten des Modewochen-Chaos‘ einen kühlen Kopf bewahrte. Viard trägt nun den Titel "Artistic Director Fashion Collection". Mit ihr könne "das Erbe von Gabrielle Chanel und Karl Lagerfeld weiterleben", kommentierte Miteigentümer Alain Wertheimer.

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Kristen Stewart in Schneeanzug und Sonnenbrille.
Foto: AP Photo/Thibault Camus

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Schauspielerin Janelle Monae im schneetauglichen Kleid.
Foto: AP Photo/Thibault Camus

Mit der diskret agierenden Familie ist die Geschichte von Chanel seit fast hundert Jahren verbunden. Sie bestimmt den Kurs des Modehauses, das heute zu den letzten unabhängigen Luxusunternehmen gehört. 1923 lernte Coco Chanel die Geschäftsmänner Pierre und Paul Wertheimer auf der Pferderennbahn von Deauville kennen. Sie machten ihr erstes Parfum N°5 zu einem Verkaufshit. Seit 1971 ist die dritte Generation Wertheimer am Zug. Damals wie heute oberstes Gebot: Verschwiegenheit.

Wenig ist bekannt über die beiden Chanel-Eigentümer, die Brüder Alain und Gérard, beide um die 70. Sie gelten als die großen Geheimnistuer mit den Melonenhüten – wenn, dann treten sie gemeinsam in der Öffentlichkeit auf. In Lagerfeld fanden Alain und Gérard 1983 endlich ihren kongenialen Partner. Ihm stellten die Besitzer einen Freifahrtschein aus, plauderte Lagerfeld einmal in einer Dokumentation aus: "Machen Sie mit der Marke, was Sie wollen." Der Deutsche machte was draus. Er sorgte mit seinen Fächern und Diäten, den wechselnden Lieblingsmodels und Katze Choupette für Ablenkung und Unterhaltung. Gemeinsam mit dem Hamburger Workaholic wurde aus der Unternehmung rund um die ausgefranste Tweed-Jacke und das Handtaschenmodell 2.55 ein internationaler Konzern mit Luxuskollektionen, Handtaschen und Parfum.

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Claudia Schiffer und Monica Bellucci.
Foto: AP Photo/Thibault Camus

Oberstes Gebot Diskretion

Diskret agiert das Unternehmen bis heute, doch schon vor dem Tod Karl Lagerfelds war klar: Es muss sich etwas ändern. Ende vergangenen Jahres verkündete Modechef Bruno Pavlovsky, dass das Haus nun auf Pelz und Krokoleder verzichten wird. Zuvor war ein Geschäftsbericht veröffentlicht worden, zum ersten Mal in der fast hundertjährigen Geschichte des Modehauses. Warum das große Schweigen gebrochen wurde? Man sei dem Wunsch der Konsumenten nach mehr Transparenz nachgekommen, erklärte Finanzchef Philippe Blondiaux. Tatsächlich setzte Chanel damit den Spekulationen und schwelenden Übernahmegerüchten (LVMH-Chef Bernard Arnault galt als besonders interessiert) Zahlen entgegen: Der Umsatz des 1910 von Coco Chanel gegründeten Modehauses wuchs im Jahr 2017 um elf Prozent auf 8,3 Milliarden Euro, dem chinesischen Luxusmarkt sei Dank.

Die Botschaft von Chanel: Die Marke ist stark und liegt ungefähr gleich auf mit dem Rivalen Louis Vuitton aus der LVMH-Gruppe sowie mit Gucci. Die italienische Konkurrenz aus der Kering-Gruppe macht seit 2015 vor, wie mit Alessandro Michele und Marco Bizzari, einem Designer aus der zweiten Reihe und einem neuen CEO, die Erneuerung einer Marke gelingen kann.

Bei Chanel wird die neue Leitung mit zwei Prêt-à-porter- und zwei Couture-Kollektionen, zwei Zwischenkollektionen und der aufwendigen Métiers-d’Arts-Show nicht nur ein ungeheures Arbeitspensum bewältigen, sondern sich auch mit grundsätzlichen Fragen beschäftigen müssen. Die digitale Revolution steht bei Chanel noch aus. Bisher werden nur Kosmetik und Parfums online verkauft, Mode und Accessoires sind ausschließlich in den Chanel-Boutiquen erhältlich. Noch Ende letzten Jahres hatte Chanels Modechef Bruno Pavlovsky bekräftigt, "ein so besonderes Produkt" sei nicht für den Onlineverkauf geeignet. Ob die Millennials so viel Geduld mitbringen? Nicht nur Designchefin Virginie Viard muss in den kommenden Jahren einen kühlen Kopf bewahren. (Estelle Marandon, Anne Feldkamp, 5.3.2019)