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PRO: Reinen Wein einschenken

von Gerald Schubert

Natürlich gibt es in Familien auch mal Streit. Das gilt erst recht für die Parteienfamilien in der EU: Kontroversen zwischen Gruppierungen, die sich zwar auf ähnliche Prinzipien berufen, aber ideologisch unterschiedlich gefärbt sind und unterschiedliche nationale Interessen verfolgen, müssen möglich sein.

Im Fall von Ungarns Regierungspartei Fidesz aber ist der Zoff mit Europas Christdemokraten (EVP) längst Programm geworden. Jüngster Höhepunkt: eine Plakatkampagne, in der EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – bei der Wahl 2014 immerhin EVP-Spitzenkandidat – neben dem zum Staatsfeind stilisierten Demokratieförderer George Soros gleichsam als Gefährder präsentiert wird.

Schmerzgrenze austesten

Immer wieder hat Orbán die Schmerzgrenze der EVP ausgetestet – auch auf dem Gebiet von Justiz und Bürgerrechten. Das Argument, er veranstalte bloß Theaterdonner für die Innenpolitik, während er auf EU-Ebene stets wieder einlenke, ist seltsam kurzsichtig: Es degradiert Brüssel zur Projektionsfläche nationaler Machtstrategen.

Auch wenn es nach der EU-Wahl ohne die Fidesz-Mandate einen Machtverlust für die EVP geben könnte: Ehrlich wäre es, den Wählerinnen und Wählern vorher reinen Wein einzuschenken. Die EVP würde dadurch sogar ihr Profil schärfen. Klar: Orbán würde sich dankbar in der Opferrolle suhlen. Aber diesen Gefallen muss ihm die EVP tun – für sich selbst und für die europäische Demokratie. (Gerald Schubert, 5.3.2019)

KONTRA: Nicht die Rechten stärken

von Thomas Mayer

Keine Frage, Viktor Orbán ist ein politischer Kotzbrocken, zynisch, skrupellos, unmoralisch, ein Machtmensch durch und durch. In Ungarn wie in der Europäischen Union. Seit 2010 geht das jetzt so.

Jeder halbwegs Interessierte kann aufsagen, was Gegner wie Parteifreunde dem Premierminister vorhalten. Orbán ist das Böse. Um ihn dreht sich in Europa alles. Diesen Eindruck könnte man etwa bei den Anklagereden der Fraktionschefs von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen im EU-Parlament bekommen. Es erschiene daher nur logisch, dass die EVP Fidesz endlich rauswirft, sich befreit.

Dann könnten alle, die Politik vor allem als moralische Übung sehen, endlich wieder ruhig schlafen. Problem gelöst, Europa gerettet. Wirklich? Eher das Gegenteil.

Totale Polarisierung

Mit dem EVP-Ausschluss Orbáns jetzt, drei Monate vor wichtigen Europawahlen, fingen die Probleme der Gralshüter des Proeuropäischen realpolitisch erst richtig an. Orbán wäre ja nicht weg. Aber Europas Rechte bis hin zu den extrem Rechten hätten einen Märtyrer, den Wahlschlager: Wir gegen alle anderen. Totale Polarisierung. Das stärkt sie.

Die EVP würde schwächer. Dazu kommt: Orbán mag laut sein, unerträglich reden. Seine Fidesz-Abgeordneten stimmen im EU-Parlament aber stets brav mit den "Proeuropäern". Es ist nicht ganz unvernünftig, die ungarischen Rabauken weiter in der Familie zu behalten, sie zu konfrontieren, mit ihnen zu streiten, sie zu korrigieren. Man sollte die künftigen Rechtsfraktionen aber nicht noch stärken.(Thomas Mayer, 5.3.2019)