Die literarische Zimmerreise ist Gauß möglich, weil der Blick für Zusammenhänge offen ist. Der Schriftsteller verbindet Erzählen mit Reflexion über das Erzählen.

Foto: Kurt Kaindl

"In der Wohnung ist Platz für viele Tote, wir leben mit ihnen."

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Von der Salzburger Altstadt aus gesehen befindet sich hinter dem Neutor und dem Mönchsberg eine Wohnung, die eine Weltreise birgt, eine vielschichtige Litera-Tour, die sich nunmehr lesend verfolgen lässt. Ihre Wege und nicht minder interessanten Umwege bieten eine Fülle von Eindrücken, Geschichten, Charakteren, Überlegungen, wie sie in solchem Zusammenspiel nur aus der Feder eines großen Erzählers stammen können.

Dessen Sprachkunst hat zu unserem literarischen Vergnügen schon in allerlei Länder, zu sterbenden Europäern und versprengten Deutschen, zu ungewöhnlichen Kulturbeziehungen und Familienporträts, zu Lektüreberichten und Gesellschaftsbeobachtungen geführt. Vor der eigenen Haustür hat sie bislang haltgemacht.

Beim Eingang ist in den Boden die Jahreszahl 1896 eingelassen. Neben einem schwarzen Klingelknopf steht auf weißem Schildchen: Gauß. Das rief beim jüngsten Besuch in Erinnerung, dass das Telefon oben im ersten Stock früher selbstständig mit sonorer Stimme antwortete: "Nachrichten für Familie Gauß bitte auf Band sprechen."

Da wussten Eingeweihte, es gelte nun eine halbe Kurzgeschichte als Wortangel auszuwerfen, um Karl-Markus Anreiz und Zeit zu geben, die Holzstiege hinunter ins Wohnzimmer zu steigen und mit eben der sonoren Stimme ein geradezu Karl-Valentin'sches "Bin schon da" in den Hörer zu rufen.

Im immobilen Abseits

Seit das Handy keine Veränderung des Standorts erfordert, redet das Telefon anders. Das dunkle Gerät mit seinen Nummerntasten scheint ins immobile Abseits geraten zu sein und hat es, anders als manche seiner kleinen Dinggenossen, nicht in das jüngste Werk seines Besitzers geschafft.

Die Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer sucht fast jeden Winkel der Wohnung auf, rückt dem Inventar nahe, um auszuschwirren in alle Welt und ihre Bücher. Aber die alte sprachliche Landebahn bleibt unbesichtigt. An diesem hellen Februarnachmittag steht sie da und schweiget. Umso beredter sind die Räume, die nach der Lektüre des Buches unsereinen wesentlich eingehender ansprechen.

Noch dazu garniert mit dem vollen Mehlspeistablett auf dem runden Tisch im einladend ausladenden zweiteiligen Wohnzimmer. In der Nähe befinde sich eben eine ausgezeichnete Konditorei, sagt der Gastgeber, dessen Frau Maresi noch in der Schule zu tun hat.

Rührend unterrichtet und betreut sie Kinder, die ohne Deutschkenntnisse nach Salzburg gekommen sind. Im Laufe der Jahre saßen junge Menschen aus wohl 120 Ethnien in ihrer Klasse, und Karl-Markus sprach davon, einmal ein Buch Die vielen Kinder meiner Frau zu schreiben. Im neuen Band ist davon nicht die Rede, wiewohl hier auch von unausgeführten Projekten zu lesen ist.

Einsichten von feiner Bildhaftigkeit

Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer ist wie alle Gauß'schen Werke eine Kulturerzählung von hoher Formulierungskunst, die durchaus Gewohntes umzudrehen und dadurch sinnlich nachvollziehbar zu machen versteht. Die Wohnung in dem Haus, das er von Kind auf kennt, schildert Gauß als umgekehrtes Schiff. In dessen Bauch, dem Schlaf- und zugleich Arbeitsraum, habe er eines Freitagnachmittags den Anker gelichtet, "dachte an die Abenteuer, die auf mich warteten, und begab mich hinunter auf das Oberdeck".

Dass die Frage der Perspektive von vornherein in ihrer Bedeutung erscheint, schafft im Konkreten wie im Übertragenen Einsichten von feiner Bildhaftigkeit: "Blicken wir in wolkenlosen Nächten durch die oberste Luke in den Himmel, sehen wir am Grund des Meeres die Sterne blinken." Der Blick mag ins Große, in die Ferne gleiten – in den eigenen vier Wänden kommt er von der architektonischen Anordnung auf nebensächliche Dinge, die zu Hauptsachen geleiten, zu ausholenden Erinnerungen an Leben und Lesen.

Wir haben uns im hinteren Teil des Oberdecks niedergelassen, die Sonne bescheint das Kanapee und zeichnet das Fensterkreuz schattig schräg auf den Holzboden. Über einem Sesselrücken hängen Seiten einer großformatigen Zeitung, als seien sie vor Ort gedruckt und zum Trocknen aufgelegt worden.

Karl-Markus serviert Ingwertee, dann setzt er sich auf das weiße Sofa neben dem wackeligen "kakanischen Huldigungsregal", wie er es nennt, da hier Bücher über die Monarchie stehen – eine kritische Huldigung, wenn wir Sealsfield/Postls Austria as it is in die Hand nehmen, die "politische Kampfschrift" des Vormärz und, wie Gauß sie mit der eigenen Literatur verbindet, "eine kunstvoll komponierte Reiseerzählung". Alt und vielgelesen sehen jene Bände aus, die am Rand in den Raum schauen.

Anekdote und Analyse

Gemütlich wirkt das Zimmer im Zusammenspiel der Epochen und Stile, eine Uhr aus dem Biedermeier an der Mauer, eine Musikanlage im niederen Kamin. Pflanzen stehen am Boden und wetteifern auf niederen Podesten mit einem Stapel neuerer Publikationen, vom Eckschrank hängen grüne Blätter; Bücher und Kunstwerke decken die Wände in enger "Petersburger Hängung" ab.

Manche sind Miniaturen, über dem weißen Sofa hingegen sticht ein großes Gemälde ins Auge, das einen Schnurbärtigen aus dem Verschwommenen schauen lässt. Neben dem Kopf ist in roter Schrift Ehrenstein zu erkennen und erinnert uns an das erste Gauß-Buch (1986, 272 verkaufte Exemplare). Dazu zeigt gleich der Eingang, im Vorraum, das handschriftliche Original eines Gedichts von Albert Ehrenstein.

Natürlich versammelte der Wohnort im Laufe der Zeit ein Allerlei, in dem Geschichten der Familie – der Eltern aus der Batschka, der Schwiegereltern aus Südtirol – stecken, etwa Großmutters Kochbuch oder der Aschenbecher des amerikanischen Onkels. Im Kleinen manifestiert sich nicht nur das Anekdotische, sondern es regt zudem das Analytische an.

Vom Miniglobus als kaputtem Bleistiftspitzer auf dem Schreibtisch gelangt man in die alte Uni-Bibliothek zur Weltkugel des Joseph Jakob Fürstaller aus dem Jahr 1770, der einzigen, die das Lungauer Dorf Bramberg, Fürstallers Wirkstätte, verzeichnet. Ihr verdankt der Erzähler die Reflexion, dass die Welt immer von einem bestimmten Ort aus gesehen werde und es "so etwas wie die Ortshaftigkeit der Erkenntnis gibt". In unserem Fall die Gauß'sche Wohnung.

Die ganze Welt

Eine der unzähligen Lektüre-anregungen ihres Inhabers war Voyage autour de ma chambre (Die Reise um mein Zimmer) Xavier de Maistres von 1795. Als Parodie der philosophischen Romane und ihrer erdumspannenden Erkundungen über den Zustand der Aufklärung hatte das Buch die Mode der räumlich engen Gedankenspaziergänge ins Weite begründet.

Es verstehe das Zimmer als narrative Vorratskammer, führe locker über deren Grenzen hinaus, kehre immer wieder zurück und mache die ganze Welt zum Thema, erklärt Gauß zugleich die eigene buchstäbliche Vorgangsweise. Dabei nimmt er de Maistre so wichtig, dass er seinen Titel an den Vorgänger anlehnt und die Wohnung zu einem Zimmer konzentriert.

An diesem sonnigen Freitagnachmittag legt uns Karl-Markus den archaisch anmutenden Brieföffner in die Hand. "Reparaturlos – Sturmsicher – Vornehm" steht darauf. Wovon ließe sich das heute noch sagen?, meint sein Besitzer. Von diesem schmalen Gerät kommt man über das Eternit und Vöcklabruck nach Tschechien in die paternalistische Arbeiterstadt der Brüder Bat'a und fast bis Brasilien.

Und zugleich in ein Damals, als das Telefon am Festnetz hing und die Post Kuverts mit langen persönlichen Mitteilungen brachte. Der eine wesentliche Boden der Wohnung ist das Früher, an ihm misst sich das Heute. Die abenteuerliche Reise führt nicht nur durch zwei Ebenen des Raums, Unterdeck oben und Oberdeck unten, sondern auch durch mindestens zwei Zeitebenen, beides sowohl einer sinnlichen als auch einer intellektuellen Besichtigung anheimgegeben.

"Nach ehrlos kurzer Verweigerung", betrachtet sich Karl-Markus Gauß, ein Meister der folgerichtigen Paradoxie, im Spiegel seines Verhaltens, "habe ich mich der Kommunikationsform des E-Mails ergeben, dank der ich alles so viel schneller erledigen kann, dass ich immer mehr Zeit dafür aufzuwenden habe."

Selbstversuch mit verbundenen Augen

"Besichtigung" nimmt Gauß so wörtlich, dass er auch dies umgekehrt probiert und einen Selbstversuch über die Gewohnheit durchgeführt hat. Mit verbundenen Augen tastete er sich durch die ganze Wohnung, ohne zu straucheln; er schaffte es sogar, im Bad die Zahnbürste zu ergreifen.

Dass er dann am Nächsten scheiterte, indem er mit ihr den Mund nicht traf, ist einer der feinen komischen Effekte des Buchs. Fazit: "Es war nicht die Vorstellungskraft, sondern das Gedächtnis der Füße, das mich leitete." Anders das Schreiben: Indem er schreibe, gewinne er über das, worüber er schreibe, jene Klarheit, "die durch bloßes Nachdenken zu erreichen mir nicht gegeben ist".

Die literarische Zimmerreise ist nur möglich, weil der Blick für Zusammenhänge offen ist. Den Unterschied zur Internetkultur sieht Gauß in der Ortlosigkeit, die es mit sich bringe, dass man weder den Gegensatz noch den Zusammenhang zwischen eigener und großer Welt zu erkennen vermöge.

Das Gauß'sche Projekt fördert beides, bis ins Detail, das auch Konträres verbinden kann. Zum Beispiel manifestiert sich im "schnatternden Schweigen" der Großeltern, wie sich große in kleiner Geschichte äußert. Und: "In der Wohnung ist Platz für viele Tote, wir leben mit ihnen."

Das Büro von Karl-Markus Gauß liegt seit jeher zu Hause, im Unterdeck oben, am Schreibtisch neben dem Ehebett. Freilich ist auch dies in der Abenteuerlichen Reise nicht ohne originelle Verschränkung: "dass meine Frau in meinem Arbeitszimmer schläft und ich in ihrem Schlafzimmer arbeite".

Reflexion über das Erzählen

Auf seine pointierte Art verbindet Gauß Erzählen mit Reflexion über das Erzählen, Poesie mit Poetik. Mittels der Verknüpfungen, von denen manche hervortreten, andere subkutan laufend mitschwingen, erlangt das Werk seine eigenartige Dichte. Sie bildet die tragfähige Unterlage für eine Reihe von Charakterfiguren und Eindrücken von Büchern, Bildern, Kulturräumen.

So bringt etwa ein berührendes Kurzporträt den Maler Herbert Breiter nahe ("der einzige Förderer, den ich je hatte"), so steht Literatur für den schönsten und interessantesten Weg, "hinaus in die Welt zu gelangen". Was sich zu erzählen lohne, finde sich meist, wenn der Zufall vom zurechtgelegten Plan abbringe.

Die Welt wird nicht nur von einem bestimmten Ort, sondern auch von einer bestimmten Person, ja Persönlichkeit aus gesehen. Deren Vorgangsweise der genauen Betrachtung und der Assoziationen fördert Umwege, sodass wir in den Genuss von zwei Exkursen, einer kleinen Phänomenologie des Wartens und einem Lob des Rausches, sowie von Verweisen auf ungeschriebene Bücher kommen – eines mit dem Arbeitstitel "Alle meine Bücher, die ich nicht mehr schreiben werde".

Das Projekt "Wanderungen über den Friedhof" habe "mein verfluchter Hang zum Enzyklopädischen" abbrechen lassen. Gerade diese Eigenschaft jedoch hat Gauß andauernd auf Suchen geführt, die uns seit Jahrzehnten große Lesefreuden bereitet.

Intimität und Offenheit

Diese Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer kommt auch auf Elemente früherer Prosa-Erkundungen zurück, etwa auf den Großvater, der einen Koffer voller Geld hatte und ein armer Mann war (siehe den Beginn seines Werkes Von nah, von fern; 2003), sodass deren Spuren in der und aus der Wohnung nachvollziehbar aufblitzen.

All dies ergibt ein intimes und zugleich offenes Buch. Als seien alle bisherigen Werke eine weit ausholende Bogenbewegung zum räumlich Innersten gewesen. Immer wieder getragen vom "naiven Urvertrauen" in die Bedeutung der Literatur, ohne das es, wie Karl-Markus Gauß gerade der heutigen Zeit ins Stammbuch schreibt, keine Leser gäbe.

Inzwischen ist Maresi nach Hause gekommen, sie setzt sich aufs weiße Sofa neben das K.u.k.-Regal. Wir trinken Ingwertee und haben es gemütlich im mäandernden Gespräch zwischen den Bücherstellagen, die auch über Türen aus der Wand wachsen. Und wir amüsieren uns über die Aussicht, dass es eine Fortsetzung der literarischen Wohnungsbesichtigung geben müsse, denn im Badezimmer hängt – wie vieles noch unbeschrieben – ein Plakat mit dem Wunderteam-Stürmer Matthias Sindelar. Da hängt gewiss eine Reihe faszinierender Geschichten dran. (Klaus Zeyringer, ALBUM, 9.3.2019)