Doris Knecht verfolg in ihrem neuen Roman "weg" die Grundidee, dass zwei Menschen, die aus verschiedenen Richtungen kommend ein gemeinsames Ziel erreichen müssen.

Foto: Pamela Rußmann

STANDARD: Zwei, die sich nicht mehr viel zu sagen haben und sich auf die Suche nach der gemeinsamen Tochter machen, die nach Asien verschwunden ist. Wie sind Sie auf den Stoff von "weg" gekommen?

Knecht: Ich hatte diesen Plan, zwei, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen, auf eine gemeinsame Reise zu schicken, in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. In Vorarlberg, wo ich aufgewachsen bin, gab es die Geschichte des Baubeamten Julius Lott, der den Arlberg-Tunnel geplant hat. Es hieß, er habe die Röhren von beiden Seiten her geplant, sei sich aber im Lauf der Bauarbeiten seiner Berechnung plötzlich nicht mehr sicher gewesen. In der Nacht vor dem Durchstich sei er so überzeugt gewesen, dass die Röhren sich kilometerweit verfehlen, dass er sich das Leben genommen habe. Diese Geschichte hat mich als Kind sehr beschäftigt, und als ich begann, über dieses Buch nachzudenken, faszinierte mich die Idee, dass zwei Erzählstränge von zwei Richtungen aufeinander zustreben, und man weiß nicht, ob sie sich am Ende treffen. Ich habe dann nur schnell herausgefunden, dass die Legende gar nicht stimmt. (lacht) Lott starb vor dem im Übrigen problemlosen Durchstich eines natürlichen Todes. Aber die Grundidee verfolgte ich weiter: zwei Menschen, die aus verschiedenen Richtungen kommend ein gemeinsames Ziel erreichen müssen. Heidi, die Frau in meinem Roman, lebt in ihrer ganz kleinen Welt, die sie möglichst nie verlässt, weil sie sich nur da sicher fühlt. Aber dann verschwindet ihre Tochter, und sie muss ihr vertrautes Nest verlassen und hinaus in eine unübersichtliche Welt, die ihr unheimlich ist, zusammen mit dem Vater der Tochter, der ihr fremd ist.

STANDARD: Angst ist das Leitmotiv in diesem Roman. Angst vorm Fliegen, vorm Alleinsein, vor der Fremde ... Beobachten Sie unsere Gesellschaft als so angstvoll?

Knecht: Ich selber bin nicht so ängstlich, aber diese unübersichtliche Weltlage und die politische Situation erzeugen auch in mir das kaum zu unterdrückende Verlangen, mich in mein Nest zurückzuziehen und alle Luken zu schließen, inklusive sozialer Medien. Das spielte sicherlich hinein beim Schreiben des Buchs. Aber in der Realität geht das natürlich nicht, wäre ja auch feig.

STANDARD: Im Buch bin ich über eine Passage gestolpert: "Nur die Mutter. Sie konnte helfen." Wir haben es in der Geschichte mit einem abwesenden Vater zu tun. Bleibt es am Ende an den Frauen picken?

Knecht: Ich möchte es nicht verallgemeinern, aber selbst in meinem Milieu sind es meistens die Frauen, die sich am Ende kümmern. Es ist eine Selbstverständlichkeit in einer Gesellschaft, in der die Abwesenheit von Vätern eher als normal und akzeptabel betrachtet wird als die von Müttern.

STANDARD: Georg, der ja für diese gemeinsame Tochter ein abwesender Vater war, wird trotzdem sympathisch gezeichnet.

Knecht: Die beiden lernen einander zufällig in Wien kennen, wo er lebt, haben eine Affäre, bekommen ein Kind, das er eigentlich nicht wollte, aber er hätte sich dennoch gern darum gekümmert, als es da war. Sie haben es versucht, aber sie passten einfach nicht zusammen, aus denen wurde einfach kein Paar, und die Frau wollte bald wieder heim in ihr vertrautes Kaff, was für ihn keine Option war. Sie haben beide nichts falsch gemacht, alle haben versucht, es gut zu machen.

STANDARD: Man bekommt das Gefühl, dass die Knecht als Autorin sehr gern in Männerrollen reinschlüpft ...

Knecht: Oh ja, das stimmt. Es ist interessant, die Welt einmal aus den Augen eines Mannes zu betrachten. Deshalb habe ich das Buch auch aus der Perspektive des Mannes begonnen.

STANDARD: Sie wechseln zwischen männlicher und weiblicher Perspektive, aber nie zwischen den Generationen. War das keine Überlegung?

Knecht: Doch, aber dieser jungen Frau eine Stimme zu geben hätte die Spannung ruiniert. Und letztlich fand ich aber das Kammerspielartige zwischen Heidi und Georg ganz gut.

STANDARD: Könnten wir uns überhaupt noch in diese nächste Generation hineinversetzen?

Knecht: Lustig, ich habe kürzlich mit einer der Töchter in diese neue Netflix-Serie Sex Education geschaut, aber sie hat sich darüber beschwert, wie schemenhaft und oberflächlich Jugendliche da gezeichnet werden. Dass sich ihre Generation in diesen Bildern und Dialogen nicht wiederfindet. Derry Girls kommt besser an.

STANDARD: Im Buch geht es viel ums Elternsein. Wie unterscheiden wir uns als Elterngeneration von unserer Elterngeneration?

Knecht: Ich habe mich ja für so eine Art Künstlerleben entschieden, für dieses Milieu. Das Leben ist für meine Kinder deshalb ganz anders als es in meiner katholischen Vorarlberger Familie war, in der es viel engere Grenzen gab und es zwischen Eltern und Kindern nicht so freundschaftlich zuging wie bei uns. Wir reden viel und sehr offen.

STANDARD: Mit im Gepäck auf dieser Reise von Heidi und Georg nach Asien sind auch Gedanken um den Zustand unserer Welt, über die Ungleichheit, die zwischen dem reichen Westen und dem Rest der Welt herrscht. Sind psychische Probleme der Preis, den wir für dieses abgesicherte Leben zahlen?

Knecht: Man ist heutzutage relativ häufig mit psychischen Erkrankungen konfrontiert, vielleicht weil auch selbstverständlicher damit umgegangen wird als früher. In dem Ort, in dem ich aufwuchs, gab es ein psychiatrisches Krankenhaus, das hieß bei uns natürlich Irrenanstalt, und wer dort landete, war aus der Gesellschaft raus. Das ist heute anders. Ich kenne heute kaum noch Menschen, die noch nie eine Therapie gemacht haben. Und bei den anderen denkt man sich mitunter, dass es ihnen nicht schaden würde.

STANDARD: Das Buch umgeht eine konkrete Diagnose der psychischen Erkrankung der erwachsenen Tochter.

Knecht: Es ist eine durch Suchtmittel induzierte Psychose. Ich habe dafür viel mit Experten gesprochen, die im Suchtbereich arbeiten. Auch über dieses um ein Vielfaches stärkere Marihuana, das heutzutage im Umlauf ist und das immer öfter mit Schizophrenie in Verbindung gebracht wird, vor allem, wenn es genetische Dispositionen gibt. Trotzdem wird Marihuana noch immer überwiegend als harmlos dargestellt.

STANDARD: "Älterwerden ist grauenhaft", steht in "weg" zu lesen. Was ist gut am Älterwerden?

Knecht: (lacht) Ich bin da nach wie vor eher skeptisch. (denkt länger nach) Nein, es ist eh okay, ich habe keinen Grund zu jammern, ich bin dankbar, dass es mir so gut geht. Und es bringt einen tatsächlich weniger aus der Fassung. Aber man spürt halt auch, wie einem Dinge entgleiten und verlorengehen. Im Buch gibt es eine Szene in einem Festivalbackstagebereich, und das basiert auf einer eigenen Erfahrung: Wie man da unter diesen jungen, lässigen Bandmenschen ist, so wie früher auch, bloß dass man plötzlich 30 Jahre älter ist. Es fühlt sich alles völlig vertraut an, aber man merkt, man ist nicht mehr Teil davon und wird es nie mehr sein.

STANDARD: Stellt sich dieser sentimentale Blick zurück beim Schreiben jetzt öfter ein?

Knecht: Ja. Im Leben und auch beim Schreiben. Wenn man glaubhaft erzählen will, muss man aufmachen und alles einmal durchspüren. Das ist manchmal schmerzhaft, aber auch spannend.

STANDARD: Was liegt aktuell gerade auf Ihrem Bücherstapel?

Knecht: Ich lese gerade drei Sachen gleichzeitig: Simone Meiers Kuss, Barbara Zemans Immerjahn und Das weibliche Prinzip von Meg Wolitzer, nachdem ich erst unlängst in ihren Roman Die Ehefrau reingekippt bin, kurz bevor der Film mit Glenn Close herauskam. Ich finde Wolitzer super, auch ihren Feminismus. Sie hat einen spannenden Essay geschrieben zu Literatur von Frauen, auf Basis des alten Problems: Wenn Frauen Geschichten schreiben, ist es Frauenliteratur; wenn Männer Geschichten schreiben, ist es Literatur. Schriftstellerinnen werden ständig in diese Frauenecke geschoben, als seien die Geschichten, die Frauen erzählen, nur für Frauen von Interesse, während die Geschichten von Männern selbstverständlich für alle relevant sind. Es ist zäh und ermüdend, dass man immer wieder darüber reden muss, aber es ist tatsächlich ein virulentes Problem, unter dem viele Schriftstellerinnen leiden. Bei der Leipziger Buchmesse gibt es zum Beispiel auch heuer wieder eine "Ladies Night", in der Frauen, die thematisch und stilistisch völlig unterschiedliche Bücher geschrieben haben, an einem Abend zusammengewürfelt werden, so: Sensation! Frauen, die schreiben können! Eine vergleichbare "Boys Night" gibt es natürlich nicht.

STANDARD: Leipzig ja steht vor der Tür. Verspüren Sie als Erfolgsautorin Druck, in regelmäßigem Abstand zu liefern?

Knecht: Ein bisschen. Aber ich schreibe ja leidenschaftlich und schnell. Die Idee wäre, allmählich und immer mehr von der Literatur zu leben, was sich wahrscheinlich nie ganz ausgehen wird, aber es wird langsam besser. Dafür muss man aber auch liefern. Zwei Jahre sind für mich ein guter Rhythmus: ein Jahr intensiv schreiben und ein Jahr aus dem Buch vorlesen – ideal. (Mia Eidlhuber, ALBUM, 10.3.2019)