Foto: privat

Das Geständnis einer sexuellen Vorliebe kann für den Partner sogar ein Lustgewinn sein. Denn Offenheit bedeutet auch Vertrauen und damit eine Intensivierung der Bindung, so der Paartherapeut.

Foto: iStock

STANDARD: Sie sind Paar- und Sexualtherapeut. Wer kommt da zu Ihnen in die Sprechstunde?

Goecker: Da gibt es keine Regel. Es kommen jüngere genauso wie ältere Menschen. Manche leben bereits seit Jahrzehnten in einer festen Partnerschaft, andere kennen sich erst ein paar Monate oder sind single. Es kommen Homo- genauso wie Heterosexuelle, insgesamt allerdings deutlich mehr Männer als Frauen.

STANDARD: Wie kommt das?

Goecker: Ich bin keine Frau – und Frauen suchen tendenziell eher den Kontakt zu weiblichen Therapeuten. Genauso wie Männer in der Regel lieber zu männlichen Therapeuten gehen.

STANDARD: Weil man sich da besser verstanden fühlt?

Goecker: Genau. Ein gemeinsamer Erlebnishintergrund verbindet. Dazu gehören nicht nur das Geschlecht, sondern auch Hautfarbe oder Nationalität. Vermutete Ähnlichkeit schafft das Gefühl von Nähe und hilft dabei, dass sich der Mensch wohlfühlt. In der Therapie bin ich natürlich trotzdem neutral.

STANDARD: Braucht es bei einem homosexuellen Paar einen anderen therapeutischen Ansatz?

Goecker: Nein. Die Grundbedürfnisse, also der Wunsch nach Geborgenheit, Vertrauen, Sicherheit, Anerkennung und Zuneigung, sind für gewöhnlich die gleichen. Ein schwules Paar setzt diese Bedürfnisse vielleicht nur anders um.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Goecker: Da geht es beispielsweise häufiger um das Thema offene Beziehung und die Frage, wie man die am besten umsetzt. Da gilt es dann Fragen zu klären wie "Warum ist eine offene Beziehung für uns wichtig?", "Welche Absprachen müssen wir treffen, damit keiner verletzt wird?" Heterosexuelle Paare sind beim Thema offene Beziehung häufig zurückhaltender.

STANDARD: Woher kommt das Bedürfnis, auch in einer gut funktionierenden Beziehung mit anderen Partnern schlafen zu wollen?

Goecker: Unser Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität auf der einen Seite, steht im Kontrast zum Wunsch nach Abwechslung und Abenteuer. Das ist ein Spannungsfeld in dem sich jeder befindet. Hiermit zu leben, ist eine lebenslange Aufgabe und kann für ein Paar oder eine Person nie pauschal beantwortet werden. Dass heterosexuelle Paare sich tendenziell weniger auf offene Beziehungen einlassen, liegt vermutlich auch am konventionellen Bild, dass ein "normales", "gut funktionierendes" Paar nicht außerhalb der Beziehung Sex hat.

STANDARD: Da spielen also moralische Grundsätze eine Rolle.

Goecker: Ebenso wie die Tatsache, dass es eben Mann und Frau sind und nicht zwei Männer.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Goecker: Männern fällt es tendenziell leichter, Sexualität zu leben, ohne dass dabei eine Bindung entsteht oder sie zu dem Menschen einen emotionalen Zugang brauchen. Frauen benötigen, um sich sexuell auf einen anderen Menschen einlassen zu können, etwas mehr Vertrauen, etwas mehr Beziehungsgestaltung. Bei einem Männerpaar wissen also beide, dass es möglich ist, lustvollen Sex ohne allzu große emotionale Nähe zu haben. Klare Absprachen braucht es dennoch. Etwa: Triff die gleiche Person nicht drei Mal hintereinander und fahr nicht mit ihm zu uns nach Hause. Denn je mehr Beziehung mit dem anderen entsteht, desto mehr Gefahr bedeutet das für die Kernbeziehung.

STANDARD: Warum brauchen Frauen mehr Beziehung, um sich auf Sex einzulassen?

Goecker: Eine Hypothese, die mir plausibel erscheint, ist, dass Frauen viel mehr investieren müssen, wenn sie mit einem Mann schlafen. Denn wird sie schwanger, muss sie das Kind nicht nur austragen, sondern auch großziehen. Zeugt der Mann mit einer Frau ein Kind, kann er hingegen sofort weiterziehen und die nächste Frau schwängern. Frauen müssen also viel genauer prüfen: Mit wem lasse ich mich hier überhaupt ein? In der Konsequenz sucht sie sich eher einen Mann, den sie über eine Beziehung an sich binden kann. Sexualität und Bindung sind bei Frauen damit tendenziell stärker miteinander verknüpft.

STANDARD: Lässt sich so eine evolutionsbiologische Sicht noch auf die heutige Lebenswelt übertragen?

Goecker: Nur, weil wir mittlerweile in Städten leben, ändert sich ja nicht unser evolutionsbiologisches Programm. Also ja: Unsere Biologie werden wir nicht so einfach los. Es gibt übrigens eine kleine Tendenz, dass Männer mit ihrer Partnerin eher Sex haben wollen, um sich mit ihr verbunden zu fühlen, wohingegen Frauen sich mit ihrem Partner verbunden fühlen müssen, um Sex zu haben. Daher kommt mitunter das Stereotyp: Der will ja nur Sex. Ein Vorurteil, dass ausblendet, dass er Sex will, weil er ihr nahe sein möchte.

STANDARD: Der Mann will der Frau durch den Körperkontakt also emotional näher kommen und sie braucht die emotionale Nähe, um sich sexuell auf ihn einlassen zu können.

Goecker: Genau. Dieses Dilemma ist häufig ein Knackpunkt in der Paartherapie.

STANDARD: Wie kommt ein Paar aus dem Dilemma raus?

Goecker: In dem beide versuchen, sich auf die Perspektive des anderen einzulassen und gemeinsam schauen, was sie verändern können, damit der Sex für beide schön wird. Beispielsweise ist das Vorspiel oft nicht nur für Frauen wichtig, sondern auch für Männer. Denn geht es gleich zur Sache, fühlen einige Männer sich tatsächlich schnell unter Druck gesetzt, was wiederum dazu führen kann, dass er keine Erektion bekommt und eine sexuelle Funktionsstörung entwickelt.

STANDARD: Sie meinen eine Erektionsstörung.

Goecker: Ja. Erektionsstörungen sind in der Therapie tatsächlich ein häufiges Problem. Klassischerweise ist der Mann stark leistungsorientiert. Dann bekommt er beim Sex – aus welchem Grund auch immer – mal keinen hoch (was immer mal passieren kann) und konzentriert sich beim nächsten Mal verstärkt auf die Erektion. Durch die Konzentration funktioniert es natürlich erst recht nicht. Er ist ratlos, weiß nicht, was er machen soll, bekommt Angst vor dem nächsten sexuellen Kontakt, spricht aber nicht mit seiner Partnerin. Die Partnerin denkt, er hat eine andere, weil er ja keinen Sex mehr mag und keine Erektion bekommt. Dann ist das Paar sprachlos – und die Sprachlosigkeit führt irgendwann dazu, dass die beiden auch körpersprachlich nicht mehr miteinander reden und dann kurz vor der Trennung stehen.

STANDARD: Hier geht es also darum, die Erektionsstörung "aufzudecken".

Goecker: Absolut. Erkennt die Frau, dass er keine Erektion mehr bekommt, nicht, weil er nicht auf sie steht, sondern, weil er Angst hat, ihre Erwartungen nicht erfüllen zu können, ist das größte Problem überwunden.

STANDARD: Gibt es Paare, bei denen die Therapie nicht funktioniert?

Goecker: Irgendetwas funktioniert immer. Damit meine ich: Irgendetwas verändert sich durch die Therapie. Schwierig ist es allerdings, wenn ein Paar unrealistische Erwartungen hat. Beispielsweise hat es gerade eine sexuelle Schwierigkeit überwunden und formuliert dann das Ziel, dass im Bett nie wieder "Pannen" passieren sollen. Das wird nicht klappen.

STANDARD: Wir sprechen jetzt sehr viel über Sex. Aber ist Sexualität tatsächlich so zentral? Geht es nicht auch um die Art der Kommunikation?

Goecker: Die Kommunikation spiegelt sich im Bett wieder. Sex ist eine soziale Angelegenheit, eine körpersprachliche Kommunikation zwischen zwei Menschen, durch die sich ganz viele Bedürfnisse ausdrücken. Das, was ich mir von der Beziehung wünsche oder auch vermisse, wünsche und vermisse ich meistens auch beim Sex. Etwa, dass mein Partner mehr auf mich eingeht oder fürsorglicher ist.

STANDARD: Sex ist also ein Symptom.

Goecker: Ja, und eines mit dem sich gut arbeiten lässt.

STANDARD: Sie arbeiten seit 15 Jahren als Paar- und Sexualtherapeut. Ihre Praxis haben Sie seit gut zehn Jahren. Haben sich die Problemlagen ihrer Patienten in letzter Zeit verändert?

Goecker: Bei den Paaren nicht. Im Einzelsetting schon. Mittlerweile habe ich viele junge Menschen – tendenziell Männer –, die mit dem Konsum von Pornos aus dem Internet sozialisiert sind. Das heißt, sie schauen sich seitdem sie elf oder zwölf sind, Pornos an. Das Problem ist, dass sie dadurch nie ihre eigenen sexuellen Phantasien entwickelt haben und es ihnen schwer fällt, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden.

STANDARD: Sie wollen also Sex haben wie im Porno.

Goecker: Richtig. Wenn sie das dann ausprobieren, funktioniert das natürlich nicht. Stattdessen langweilen sie sich und ziehen Pornos und Selbstbefriedigung dem Sex mit der Partnerin vor. Das Problem, dass sich dahinter versteckt, ist, dass diese jungen Menschen zu wenig über Beziehungen gelernt haben. Die Komponenten sexuelle Lust und Beziehung sind bei ihnen neuronal und emotional also zu wenig miteinander verknüpft. Das heißt, sie können ihre sexuelle Lust nicht mithilfe der Beziehung intensivieren.

STANDARD: Lässt sich so eine "Verknüpfung" im Alter nachholen?

Goecker: Grundsätzlich ja. Das ist ja die Grundannahme der Psychotherapie: Dass Menschen durch neue Erfahrungen lernen und sich weiterentwickeln. Bevor sie das können, müssen sie allerdings erstmal verstehen, was für eine Beziehungsdynamik ihrem Problem zugrunde liegt. Bei den sexuellen Phantasien geht man zudem davon aus, dass die Pornos, die jemand konsumiert, für gewöhnlich auch seinen sexuellen Präferenzen entsprechen. Das heißt, schaut sich jemand Pornos an, bei denen die Protagonisten eher harten Sex haben, steht er vermutlich auch auf harten Sex. In der Beziehung kann das zum Problem werden, muss es aber nicht. Wichtig ist, seine Bedürfnisse offenen zu legen. Denn seine eigenen Bedürfnisse zu unterdrücken, macht auf Dauer nicht glücklich. Und wer weiß, vielleicht will ja auch die Partnerin beim Sex gerne etwas heftiger angefasst werden – oder umgekehrt. Nur sie haben nie drüber gesprochen.

STANDARD: Liegt das dann daran, dass den Personen ihre sexuelle Präferenz nicht bewusst ist oder dass sie sich für diese schämen?

Goecker: In der Regel ist es Scham verbunden mit Angst – Angst, dass der Partner die sexuelle Neigung ablehnt, vielleicht sogar verurteilt.

STANDARD: Über was für sexuelle Präferenzen sprechen wir genau?

Goecker: Das ist sehr unterschiedlich. Die einen finden die Vorstellung, beim Sex beobachtet zu werden erregend, andere schauen dem Partner gerne zu, während er sich selbstbefriedigt oder möchten in der Natur Sex haben. Dann gibt es Fetische, bei denen beim Sex bestimmte Dinge eine Rolle spielen sollen, wie etwa Urin, Kot oder ein spezielles Kleidungsstück. Insgesamt kommen solche sexuellen Besonderheiten auch eher bei Männern vor. Einzige Ausnahme ist der Masochismus. Woran das liegt, wissen wir aber nicht.

STANDARD: Mit sexuellen Besonderheiten meinen Sie "sexuelle Präferenzstörungen"?

Goecker: Nein. Dieser Begriff wird in der Medizin zwar verwendet, um etwa Masochismus oder Sadismus zu beschreiben. Ich selbst würde in diesem Fall jedoch nicht von Störung sprechen. Letztendlich ist es eine sexuelle Neigung, die nicht der des Durchschnitts entspricht. Doch nur, weil jemand nicht die allgemeinen Erwartungen erfüllt, hat er noch keine Störung. Wichtig ist, dass er oder sie seine Bedürfnisse – etwa jemanden zu schlagen oder zu fesseln – in gegenseitigem Einvernehmen auslebt.

STANDARD: Wie reagiert die Partnerin oder der Partner, wenn in der Therapie herauskommt, dass der andere solch eine besondere Neigung hat?

Goecker: Für gewöhnlich mit Verständnis und Freude, dass der Partner endlich so offen ist. Ich hatte mal ein Paar, da war seine Fantasie, dass er während des Sexes zu ihr Mama sagen darf und dafür hat er sich total geschämt. Als sie das erfuhr, sagte sie nur: Mensch, das ist doch kein Problem. Selbst bei Urin gibt es in der Regel keine Probleme. Für den Partner kann das Geständnis sogar einen Lustgewinn darstellen. Denn Offenheit bedeutet auch Vertrauen und damit eine Intensivierung der Bindung.

STANDARD: Kommen manche Menschen oder Paare zu spät zu Ihnen?

Goecker: Zu spät ist es nie. Letztendlich ist Sexualität ja nichts Festgeschriebenes, sondern etwas, das sich entwickelt und immer wieder neu verhandelt werden muss. Bestimmte Wünsche und Neigungen werden manchen Menschen außerdem auch erst im Alter bewusst. Aber klar, wenn jemand seine Bedürfnisse seit Jahrzehnten unterdrückt oder ein Paar seit Jahren nur noch nebeneinander herlebt, wäre früher natürlich besser. (Stella Hombach, 10.3.2019)