Für viele Menschen ist der Alltag durch sich wiederholende Tätigkeiten geprägt – zur Arbeit fahren, Essen, Einkaufen, Zähne putzen, Schulbrote für die Kinder streichen, Staubsaugen, ein Haustier versorgen. Obwohl diese Alltagsverrichtungen ihrem Wesen nach indifferent sind, fühlen sich wiederholte, gleichförmige Aufgaben manchmal langweilig oder mühsam an. Wenn sich innere Unruhe und Unzufriedenheit breit machen, beginnt die Suche nach Abwechslung, Neuem und Aufregendem, um diesem Zustand zu entkommen. Die Sehnsucht, dass die Dinge anders sein mögen, als wir sie gerade vorfinden, nimmt darin ihren Ursprung und ist oftmals die Quelle von Stress.

Im Rahmen eines achtwöchigen Stressbewältigungskurses sprechen die Teilnehmenden darüber, was sie beim bewussten Ausführen von Aktivitäten im Alltag beobachtet hätten. Anna äußert sich, wie sehr sie das Staubsaugen "hasse":  "Ich sehe keinen Sinn darin, mich auch noch darauf zu konzentrieren". Am zustimmenden Nicken der anderen Teilnehmer wird klar, dass wir ein relevantes Thema berührt hatten. In dem Wissen, dass es sich um eine universelle menschliche Erfahrung handelt, stelle ich als Achtsamkeitstrainer vertiefende Fragen: "Habt ihr schon öfter bemerkt, dass ihr nicht dort sein wollt, wo ihr euch gerade befindet? Und wenn dem so ist, wie seid ihr damit umgegangen?" Peter erzählt, dass er seinen häuslichen Verpflichtungen wie ein Roboter nachkäme. Anstatt mit dem Moment in Verbindung zu bleiben, "verwickle ich mich während dem Geschirrspülen in einen inneren Dialog und kann mir dabei regelrecht zusehen, wie ich mich ärgere und schlecht gelaunt werde."

Eingeschränkte Wahrnehmung

Der menschliche Geist ist erfinderisch, einer gefühlten Tristesse mit vielfältigen Strategien zu begegnen. Man grübelt über Vergangenes, flüchtet sich in schöne Fantasien, rechtfertigt seinen Widerwillen und manchmal erledigt man die Dinge einfach seelenlos, weil sie schlussendlich getan werden müssen. Die damit einhergehende, schleichende Konditionierung verändert jedoch auch unsere Wahrnehmung. Anstatt mit der Aktualität und Fülle eines Vorgangs in Kontakt zu sein, reagieren wir zunehmend auf kontextualisierte und von vergangenen Erfahrungen geprägte Muster. Wir sehen Erfahrungen nicht mehr neu, sondern alles ist bekannt, gewohnt. 

Die Welt auf diese Weise zu erfahren, ist für sich genommen noch kein Problem und in vielen Fällen hilfreich. Wenn wir jedoch noch genauer hinsehen, dann können wir entdecken, dass oftmals stressverschärfende Gedanken und Bewertungen die Ursache dafür sind, warum wir im Alltag zu leiden beginnen: Warum muss ich das schon wieder machen? Das ist unangenehm! Mir ist langweilig! Es wäre schön, wenn ... Womit habe ich das verdient? Wenn es nur endlich vorbei sein würde ...

Es ist nicht einfach, aus dem Alltagstrott auszubrechen, um Dinge neu zu erfahren.
Foto: Felix Zaussinger

Bewertungen erkennen

Das transaktionale Stressmodell des US-amerikanischen Psychologen Richard Lazarus liefert eine Erklärung, weshalb sich die bewusste Zuwendung zu alltäglichen Tätigkeiten lohnen könnte: Wie wir ein Ereignis oder eine Situation bewerten und darauf reagieren, entscheidet darüber, wie wir uns fühlen – zufrieden und leicht oder gestresst und mürrisch.

Die Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach hat diesen Zusammenhang in einem ihrer Aphorismen so deutlich zum Ausdruck gebracht: "Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus." Wenn wir dies als Weckruf verstehen, unsere Beziehung zu all diesen Momenten genau zu erforschen, dann schaffen wir die Grundbedingungen für eine Neubewertung unserer Erfahrung und damit eine neue Sicht der Dinge.

Gewohnheiten durchbrechen

In der Praxis der Achtsamkeit kennt man von jeher eine Unzahl von schlichten Anweisungen, Präsenz im Alltag zu entwickeln. "Wenn du gehst, dann werde dir von Zeit zu Zeit deiner Schritte bewusst!", ist eine davon. Unterweisungen wie diese, sollen uns ermutigen, aus dem Strom von konditioniertem Verhalten heraus zu treten und eine frische, nicht-beurteilende Bewusstheit in unseren Handlungen zu entwickeln.

Während Sie diese Zeilen lesen, können Sie einen Moment innehalten, den Blick nach innen wenden, die Aufmerksamkeit ganz auf den Körper richten, sich daran erinnern, dass Sie atmen, wahrnehmen, wie Sie vom Tun ins Sein kommen, bemerken, ob Gedanken da sind, für einen Moment davon Abstand nehmen, sie bewerten, analysieren oder verstehen zu wollen, dem gegenwärtigen Erleben mit Offenheit und Interesse begegnen.

Aufmerksamkeit auf Wahrnehmung

Im wohl bekanntesten Stressbewältigungsprogramm, das von Jon Kabat-Zinn bereits in den 1970er-Jahren am Center for Mindfulness der Umass Medical School in den USA entwickelt wurde, der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion (Mindfulness Based Stress Reduction - MBSR), legt man besonderen Wert auf das genaue Beobachten von Erfahrungen und Handlungen im Alltag. Diese absichtsvolle Zuwendung erlaubt es, Gewohnheiten zu erkennen und ein wachsendes Verständnis dafür zu entwickeln, wie sie zur Entstehung von subjektivem Wohlbefinden, aber eben auch Stress, beitragen. Indem Teilnehmende von MBSR-Kursen erlernen, die Aufmerksamkeit auf den Vorgang der Wahrnehmung und der nachgeordneten Bewertung zu richten, gelingt es vielen von ihnen, ihre Beziehung zum Alltag in erstaunlich kurzer Zeit zu verändern. Anstatt eintönigen Erfahrungen aus dem Weg zu gehen, werden Übende aufgefordert, sich ihnen zuzuwenden und sie genau zu erforschen. Es gibt Fragen, die ermutigen sollen, eingefahrene Muster zu erkennen und letztendlich aufzulösen: Wie gehe ich mit all diesen Momenten im Alltag um? Wie wäre es, wenn ich diese Momente zum Anlass nähme, wirklich aufmerksam und wach zu sein – präsent für die Erfahrung in die Arbeit zu fahren, zu essen, zu lieben, die Teller abzuwaschen oder die Zähne zu putzen – der Unlust und Langeweile mit ehrlichem Interesse zu begegnen?

Der Alltag bietet unzählige Möglichkeiten, mit unserer Erfahrung in Beziehung zu treten. Wenn wir unserem Erleben absichtsvoll begegnen, erkennen wir allmählich konditionierte Reaktionen und schaffen dadurch einen über die Zeit wachsenden Freiraum für alternatives und kreatives Handeln. Indem wir während des Tages immer wieder kurze Momente von Präsenz schaffen, erinnern wir uns auch daran, dass das Leben tatsächlich nur im Moment stattfindet. "Und plötzlich habe ich das Gefühl, Zeit bekommen zu haben, wenn mir die Straßenbahn vor der Nase wegfährt", erzählt Julia am Ende eines MBSR-Kurses ganz von sich selbst überrascht. "Ich habe mich ganz auf das spontane Entstehen und Vergehen von Geräuschen konzentriert. Inmitten all des Lärms der Stadt habe ich dann einen Vogel singen hören, der mich an meinen letzten Waldspaziergang erinnerte – und ich konnte wahrnehmen, wie sich mein Mund zu einem Lächeln verzog."

Wenn wir uns in Präsenz üben und viele dieser gewöhnlichen, alltäglichen Augenblicke mit einem wachen Geist wahrnehmen, dann wird das subjektive Erleben nicht nur reicher, sondern wir erfahren auch wieder einen natürlichen Zuwachs an Freude und Wohlbefinden. (Thomas Zaussinger, 14.3.2019)

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