Man kann Matera aus der Ferne bewundern oder stundenlang Stiegen und Durchgänge bewandern.

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Blick auf die Stadt von einer der Höhlen aus.

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Ein religiöses Fresko in einer der Höhlen.

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Besucher auf dem Weg in die Höhlenkirche Madonna de Idris.

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Wer Matera besucht, sollte mit leichtem Gepäck anreisen. Denn um die Europäische Kulturhauptstadt 2019 authentisch zu erleben, übernachtet man am besten in den "Sassi", in jenem märchenhaften steinernen Meer aus Häusern und Höhlen, die über Jahrhunderte in einen Abhang oberhalb einer dramatischen Schlucht gebaut und gebohrt worden sind und meist nahtlos ineinander übergehen. In den vergangenen Jahren sind dort dutzende Hotels und B&Bs verschiedener Preisklassen entstanden. Was sie fast alle verbindet: Die Zimmer reichen meist tief in die Felsen hinein, und wer zum Eingang gelangen will, muss zuvor oft unzählige Stiegen ab- und aufsteigen. Autos müssen draußen parken.

Seit 9.000 Jahren ist die Stadt in der süditalienischen Basilicata angeblich bewohnt. Aber es ist die jüngere Geschichte, die Matera so interessant macht. Die Höhlen im weichen Tuffstein boten im Mittelalter tausenden angenehme Unterkünfte;_rundherum errichteten sie Wohnhäuser, Palazzi und Kirchen. Ab dem 17. Jahrhundert verließen die Wohlhabenden die Sassi und zogen auf die Hochebene über der Schlucht. Dort entstand eine elegante italienische Kleinstadt. In den Höhlen blieben die Armen zurück, und Mitte des vergangenen Jahrhunderts war dieser Teil von Matera zu einem berüchtigten Slum verkommen, in dem Familien ohne Kanalisation und Elektrizität, aber mit Malaria lebten.

Die "Schande Italiens"

Der Schriftsteller Carlo Levi machte ihr Elend in seinem Roman Christus kam nur bis Eboli weltbekannt. 1952 reiste der damalige Ministerpräsident Alcide De Gasperi an und erklärte die Stadt zur "Schande Italiens".15.000 Menschen wurden daraufhin abgesiedelt und in neuen Wohnanlagen am Stadtrand untergebracht. In den verlassenen Höhlen nisteten sich Obdachlose und Drogenhändler ein. Mancher sprach davon, man solle das Viertel sprengen.

Stattdessen wurden die Sassi wiederentdeckt und neu belebt. Wer ein Haus renovierte, erhielt ab den 1980er-Jahren großzügige Zuschüsse, und mit der Aufnahme als Weltkulturerbe auf der Unesco-Liste 1993 kamen Besucher in größerer Zahl. Jahr für Jahr wurden weitere Gebäude renoviert, es entstanden Hotels, Trattorias, Bars und Souvenirläden. Die Hotels folgen meist dem Konzept des "Albergo diffuso":_Rezeption, Restaurant und Zimmer sind auf mehreren Ebenen und Gebäuden verstreut.

Touristenboom

Dazwischen wurden mittelalterliche Felsenkirchen und besonders pittoreske Höhlenwohnungen für Besucher herausgeputzt. Und seit 2014, als Matera zur diesjährigen Kulturhauptstadt ernannt wurde, ist ein echter Touristenboom spürbar – einer, der manche um die Authentizität dieses Juwels fürchten lässt. Doch für die verarmte Region ist der wachsende Fremdenverkehr einer der wenigen Lichtblicke.

Noch ist Matera kein zweites Venedig, auch wenn man sich in den engen Stiegen und Durchgängen ähnlich verlieren kann wie zwischen den Kanälen der Lagunenstadt. Aber durch das Kulturhauptstadt-Programm könnte sich die Zahl der Besucher heuer auf 1,5 Millionen Menschen verdreifachen, sagt Rossella Tarantino, die für Außenbeziehungen zuständige Managerin bei "Matera 2019". Für die Aufführungen werden keine Karten verkauft, stattdessen erhalten alle Besucher für 19 Euro einen Pass, der ihnen bei rechtzeitiger Reservierung Zugang zu allen Events ermöglicht und sie zu temporären Bürgern von Matera macht. "Wir wollen kein Ort sein, durch den man eilt, sondern einer, mit dem man eine Beziehung aufbaut", sagt sie.

Beliebte Filmkulisse

In den ersten Wochen wirkt das Programm noch dünn, aber es zeigen sich etwa mit Kunstinstallationen in exklusiven Hotels, die für alle offen sind, bereits interessante Zugänge. Neben einigen großen Musikaufführungen im Sommer versucht das Matera-2019-Team, auch die Geschichte kulturell zu verarbeiten – so etwa das Wohnen in Felsenstädten, den Umgang mit dem knappen Wasser oder jenem Begriff, der einst mit den Sassi verbunden wurde. "Wir wollen erforschen, was Schande bedeutet", sagt Tarantino. "War es das Leben in den Höhlen, oder war die eigentliche Schande der erzwungene Exodus?"

Aber auch abseits des Kulturprogramms ist in Matera viel zu entdecken. Stundenlang kann man durch die Sassi wandern und neue Eindrücke gewinnen. In der Mitte sind es alte Kirchen und sanft renovierte Wohnhäuser, an den Rändern locken vor allem die Blicke auf das Panorama von Stadt und Schlucht. Nicht ohne Grund dient Matera als beliebte Filmkulisse, etwa für Jerusalem-Szenen in Bibelfilmen. Die Stadt könne keine großen Architekten vorweisen, betont Tarantino, sondern sei von nüchternen Baumeistern errichtet worden, die etwa darauf achteten, dass dank zahlreicher Zisternen kein Regenwasser verlorengeht.

In den Schlumpf-Hütten

In einem Palazzo hat eine Kooperative das Musma, das wohl ungewöhnlichste Museum für zeitgenössische Skulpturen, eingerichtet. Ein Großteil der Schauräume findet sich in einem Höhlenlabyrinth, in dem selbst durchschnittliche Kunstwerke eine eigene Magie entwickeln. Eine Dauerausstellung in der Casa Noha, ein weiterer renovierter Palazzo, bietet einen Streifzug durch Materas Geschichte. Im Zentrum der Sassi erhebt sich ein Felsen, in den mehrere Kirchen mit Resten von mittelalterlichen Fresken eingehauen sind. Oben auf der Ebene gibt es ein ausgezeichnetes archäologisches Museum und ein paar gute Restaurants. Und selbst die Rückkehr ins Höhlenzimmer ist jedes Mal ein Ereignis.

Auch rund um Matera gibt es in einem Umkreis von rund eineinhalb Autostunden unzählige faszinierende Ziele. Wer aus Bari anreist, wo der nächstgelegene internationalen Flughafen liegt, kann eine Nacht in Alberobello verbringen, Hauptstadt jener "Trulli"_genannten kleinen Steinhütten, die an die Häuser der Schlümpfe erinnern. Weiter nördlich liegt das Castel del Monte, eine vom Stauferkaiser Friedrich II. errichtete achttürmige weiße Festung, deren Zweck bis heute unklar ist. Außerhalb von Matera erstreckt sich ein großer archäologischer Park mit unzähligen Felsenkirchen.

Coppolas Luxushotel

Eine besonders dramatische Filmkulisse bietet die verlassene Kleinstadt Craco im Westen der Basilicata, die durch Erdrutsche weitgehend zerstört wurde und heute nur bei Sonderführungen mit Helm besucht werden kann. Und wer wirklich exklusiv übernachten will, sollte Richtung Küste nach Bernalda fahren, wo US-Regisseur Francis Ford Coppola im Geburtsort seines Großvaters den Palazzo Margherita in ein einzigartiges Luxushotel verwandelt hat. Die meisten begnügen sich mit einem Espresso in der hoteleigenen Cinecittà-Bar. (Eric Frey, 13.3.2019)