Kennt man die dreidimensionale Struktur eines Moleküls, hält man gewissermaßen die Schatzkarte in Händen, um ihre genaue Funktionsweise zu verstehen – und nutzen zu können. Da Biomoleküle wie Hämoglobin in roten Blutkörperchen zu klein sind, um sie selbst mit den besten Lichtmikroskopen sehen zu können, ist die Ermittlung ihrer Struktur ein äußerst herausforderndes Unterfangen. Eine Vielzahl an Spitzenforschern hat weltweit in den vergangenen Jahrzehnten Methoden dafür entwickelt. Einige von ihnen sind mit prestigeträchtigen Auszeichnungen wie dem Nobelpreis geehrt worden.

Für seine Beiträge zur Entschlüsselung der dreidimensionalen Struktur von Proteinen erhielt Kurt Wüthrich 2002 den Chemie-Nobelpreis.
Foto: Corn

Der aus der Schweiz stammende Biophysiker Kurt Wüthrich setzte ab den 1980er-Jahren die kernmagnetische Resonanzspektroskopie (engl. "nuclear magnetic resonance", NMR) dafür ein, um die Struktur von Proteinen aufzuklären. Dabei nutzt man die Tatsache, dass Atome aufgrund ihres Drehimpulses auf ein Magnetfeld reagieren. Das ermöglicht Rückschlüsse auf die Umgebung der Kerne. Die Ermittlung der Struktur war damit erstmals in wässriger Lösung möglich (siehe Chronologie unten). 2002 ist Wüthrich dafür mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet worden. Bei der Hans-Tuppy-Lecture der Universität Wien und der Akademie der Wissenschaften sprach Wüthrich vergangene Woche in Wien über seine Arbeiten.

STANDARD: Sie waren noch keine 30 Jahre alt, als Sie bereits mit mehreren Nobelpreisträgern engen Kontakt hatten. Wie kam es dazu?

Wüthrich: Das kann ich Ihnen nur zum Teil erklären. Der Chemie-Nobelpreisträger Max Perutz hat sich 1968 für meine Arbeiten interessiert, als ich noch völlig unbekannt war. Durch den Kontakt mit ihm habe ich in meiner Karriere in einer Woche einen Fortschritt von zehn Jahren gemacht. Er hat sich meine Dias ausgeliehen und sie bei Vorträgen in der ganzen Welt gezeigt. Mit den Nobelpreisträgern Linus Pauling und Dorothy Hodgkin bin ich einige Jahre später im Privatflugzeug in der Sowjetunion herumgeflogen – das war schon ziemlich verrückt.

Warum es in der Wissenschaft nicht immer einfach ist, bedeutende Resultate zu erkennen, erklärt Kurt Wüthrich im Videointerview. Video: Nobelprize.org
Nobel Prize

STANDARD: Ihre frühen Arbeiten bezüglich Hämoglobin waren nicht nur wissenschaftlich motiviert, Sie waren zu dieser Zeit auch sportlich sehr aktiv. Wie hat das Ihre Forschung beeinflusst?

Wüthrich: Ich habe neben dem Studium mein Geld als Skilehrer verdient. Später habe ich auch an einem Gymnasium Turnunterricht gegeben. Als ich zu Hämoglobin forschte, bin ich noch Mitteldistanzen gelaufen. Wir haben damals viel über Sauerstoffzufuhr diskutiert – diese Frage hat mich über Jahre beschäftigt. Meine Forschung zu Hämoglobin habe ich deshalb auch aus sportlichem Interesse gemacht. Außerdem brauchten wir große Mengen an Probematerial, und Blut konnte ich beliebig viel aus mir herausholen.

STANDARD: Von Ihren Forschungen zu Hämoglobin waren Perutz und andere Wissenschafter sehr angetan. Später machten Sie aber eine Entdeckung, die vorerst mit Skepsis aufgenommen wurde. Worum ging es dabei?

Wüthrich: In den 1970er-Jahren haben wir gezeigt, dass aromatische Ringe im Inneren von Proteinen dauernd umklappen. Als ich das erstmals bei einem Kongress vorstellte, hat Max Perutz als Sitzungsvorsitzender im privaten Gespräch den Chemiker Robert Huber gefragt: "Sollen wir das diskutieren, oder ist es kompletter Unsinn?" So ging es damals zu. Später mussten die Kollegen einsehen, dass diese Ringe wirklich umklappen. Ich denke, das war der größte Beitrag zur Strukturbiologie, den wir bisher mittels NMR geleistet haben – es war wirklich eine unglaubliche Erkenntnis. Ich bin danach jahrelang mit "Herr Ringflip" angesprochen worden.

Als Forscher sollte es einen nicht beschäftigen, ob man für seine Arbeit einmal mit dem Nobelpreis gezeichnet wird, sagt Kurt Wüthrich. "Ich habe immer etwas gemacht, was meine Professoren nicht getan hatten."
Foto: Corn

STANDARD: Wie sind die Reaktionen in der Fachwelt ausgefallen, als Sie in den 1980ern die erste Struktur vorstellten, die Sie mittels kernmagnetischer Resonanzspektroskopie ermittelt haben?

Wüthrich: Zuerst hat uns niemand geglaubt. Das ist nichts Unerwartetes: Wenn etwas Neues passiert, gibt es Widerstände. Man verdächtigte uns, von früheren Ergebnissen abgeschaut zu haben. Die zweite NMR-Struktur wich völlig von jener ab, die mit der erprobten Röntgenmethode bestimmt worden war. Es gab dann jahrelang Unsicherheit. Ich ging für zwei Saisonen Skifahren, weil ich mich nicht herumstreiten wollte. Nach sechs Jahren wurde gezeigt, dass die NMR-Struktur richtig war.

STANDARD: War Ihnen damals klar, dass Ihre Entdeckung einen Nobelpreis verdienen würde?

Wüthrich: Ich glaube nicht, dass einen der Nobelpreis besonders beschäftigen sollte. Das Einzige, woran ich mich gehalten habe, war, dass ich immer etwas gemacht habe, was meine Professoren nicht gemacht hatten. Ich habe nie einen Weg verfolgt, der mir aus meiner Studienzeit vorgezeichnet war. Mit dem Nobelpreis in Chemie hatte ich nicht gerechnet, denn 1991 hat Richard Ernst, mit dem ich jahrelang zusammengearbeitet habe, diesen Preis allein bekommen.

Kurt Wüthrich rechnete nicht damit, den Chemie-Nobelpreis zu bekommen, wie er im Videointerview berichtet. Video: Nobelprize.org
Nobel Prize

STANDARD: Wissen Sie, warum Sie den Preis 2002 erhielten?

Wüthrich: Das können nur die Mitglieder des Nobelkomitees wissen.

STANDARD: Die Chemie hat in der Bevölkerung nicht den besten Ruf. Woran liegt das?

Wüthrich: Zum einen sind viele Leute gegenüber allem Neuen skeptisch, und Chemie macht immer wieder Neues. In der Geschichte der Chemie gab es allerdings große Unfälle wie den Giftgaseinsatz im Ersten Weltkrieg – das steckt bis heute in den Köpfen der Menschen. Auch ist die Chemie historisch eng mit der Chemieindustrie verbunden, was nicht nur ein Vorteil ist. Die Chemie hat ihren schlechten Ruf nicht verdient. Es ist irrational, wenn man vergisst, welche Fortschritte wir der chemischen Forschung zu verdanken haben. (Markus Plank, Tanja Traxler, 18.3.2019)