Es war ein fulminanter Auftakt, als vor einigen Jahren der erste neue tschechische Comic, sprich Graphic Novel, auf Deutsch erschien: Alois Nebel vom Autorenduo Jaroslav Rudis und Jaromír 99 alias Jaromír Svejdík.

Der dreiteilige grafische Roman enthält alle Zutaten, die ein ausgezeichneter postmoderner wie postkommunistischer Comicroman braucht. Ein schillerndes Szenario, ein paar abgründige Helden und eine flackernde Ästhetik, die nicht alles verrät. Der historische Hintergrund ist durchwegs ernsthaft.

Um den redseligen Protagonisten Alois Nebel scharen sich eine Handvoll rätselhafte Figuren, darunter sein schweigsames Ebenbild, der "Stumme", der eines Tages aus dem Nichts auftaucht.

Szenen der Geschichte Tschechiens

In den Pausen zwischen den Zügen gleitet der ansonsten leidenschaftliche Fahrdienstleiter Nebel mit seinen Gedanken in Erinnerungen und surreale Traumbilder ab, in denen die Autoren neuralgische Szenen der wechselhaften Geschichte Tschechiens und der Tschechoslowakei zwischen Nazizeit und kommunistischer Ära, zwischen Widerstand und Kollaboration aus den Nebelschleiern des Vergessens heraustreten lassen. Den geografischen Hintergrund bildet das Altvatergebirge an der heutigen tschechisch-polnischen Grenze, einst Teil des historisch umkämpften Sudetenlandes.

"Alois Nebel"
Foto: Volant & Quist, Drav Verlag

Die Schwarzweißzeichnungen Svejdíks erinnern an Scherenschnitte. Doppelseiten mit scharf konturierten Landschaftsbildern wechseln mit kleinformatigen Panelfolgen von bis zu 24 Bildern je Seite. In überraschenden Konstellationen bricht wehmütiger Witz aus den Nähten zwischen den Panels.

Der tschechische Comic reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Doch mit dem bekannten Phänomen der Abwertung, Verdrängung bis hin zur Zensur hatte das Medium ebenso zu kämpfen wie in anderen europäischen Ländern.

Nach der Nazizeit war es das sozialrealistische System, das den Comic erneut als "perversen kapitalistischen Schund" diskreditierte. Die glückliche Koinzidenz von Maueröffnung und verheißungsvoller Neubelebung des Mediums seit den 1990ern hat auch in Tschechien einen Comicboom ausgelöst. Nur wenig liegt in Übersetzung vor.

Erstaunliche Verwandlungsfähigkeit

Dass Alois Nebel, von Regisseur Tomás Lunák und den Autoren auch als Animationsfilm umgesetzt, bis heute zu den meistverkauften Comics in Tschechien gehört, hat neben einem ausgeklügelten Marketing wohl auch damit zu tun, dass Rudis zu den gegenwärtig bekanntesten Schriftstellern (Grandhotel, Die Stille, Nationalstraße) des Nachbarlandes gehört.

Entsprechend finden sich hier auch zahlreiche Bezüge zur tschechischen Literatur. Nach dem Erfolgsroman lassen die Autoren den Fahrdienstleiter noch einmal in einem Zeitungsstrip auftreten, gesammelt in Alois Nebel. Leben nach Fahrplan. Nebel, der hier als Icherzähler erscheint, ist nun um einiges geerdeter, sein Witz stammtischkompatibel.

"Zápotek"
Foto: Volant & Quist, Drav Verlag

Svejdík hat zusammen mit dem tschechisch-US-amerikanischen Autor Jan Novák zwei weitere Comics gezeichnet, die inzwischen auf Deutsch vorliegen und eine erstaunliche Verwandlungsfähigkeit des Zeichners offenbaren. Die Comicbiografie Zátopek über den tschechoslowakischen Läufer und Olympiastar Emil Zátopek erinnert an die sozialrealistische Plakatkunst.

Mit dem Lebenslauf des eigenwilligen Spitzensportlers, der seine Position ausnutzte, um Kollegen gegen den Willen des kommunistischen Kaders zu unterstützen, skizzieren die Autoren typische Lebenssituationen in der Tschechoslowakei seit den 1930er-Jahren mit.

In der Küche der Eltern wird mehrmals das Konterfei Stalins mit dem Kreuz Jesu ausgetauscht, um den Einfluss der Politik auf das Private zu markieren. Die Beziehung Zátopeks zu der Speerwerferin Dana Ingrová deutet auch das reizbare Verhältnis der kommunistischen Funktionäre zu ihren "bourgeoisen Elementen" an, das in Tschechenkrieg zum schwelenden Element wird.

"Tschechenkrieg"
Foto: Volant & Quist, Drav Verlag

Im soeben erschienenen Comic laufen die Brüder Ctibor "Radek" und Josef "Pepík" Masín gleich anfangs der Geheimpolizei in die Fänge. Der Versuch, in den Westen abzuhauen, ist gescheitert. Wir befinden uns zu Beginn der 1950er: Im Verhör schildert Pepík seinen Werdegang als überzeugter Vertreter der Arbeiterklasse, im Gegenzug erfährt der Leser von den tatsächlichen Sabotageaktionen, die die Brüder zusammen mit Freunden gegen das kommunistische System ausgeführt haben. Die Flucht in den Westen war nicht ihr Endziel, es war der Plan, mithilfe US-amerikanischer Spezialkräfte zurückzukehren und das Regime zu stürzen. So weit, so gut.

Verpflichtung zur Verteidigung der Freiheit

So weit, so gut (Zatím dobrý) ist auch der Originaltitel, unter dem Novák 2004 die historischen Ereignisse als Roman verpackte. Die Geschichte selbst ist in Tschechien bis heute umstritten. Denn während ihr Vater, General Josef Masín, sich als Widerstandskämpfer gegen die Naziherrschaft einen Namen gemacht hat, setzen die Söhne das Vermächtnis ihres Vaters als antikommunistischen Widerstand fort. In seinem Abschiedsbrief aus dem Gefängnis weist er sie auf die Verpflichtung zur Verteidigung der Freiheit hin: "Auch ihr werdet dies eines Tages tun müssen."

Die Erfüllung dieses Auftrags nehmen sich die Gebrüder auf ihre Weise zu Herzen. Als Radek nach eineinhalb Jahren Gefängnis und Grubenarbeit, die er nicht ohne Sabotageakte verstreichen lässt, freikommt, verübt die Widerstandsgruppe zunächst einige Überfälle auf Polizeistationen, um an Waffen heranzukommen.

Wegen der Morde, die sie dabei in Kauf nehmen, bleibt ihnen nur noch die Flucht, um der Hinrichtung zu entgehen. Zu sechst schlagen sie sich über die Grenze in die DDR durch. Doch dann beginnt eine blutige Verfolgungsjagd, an der sich neben tausenden Polizisten der Deutschen Volkspolizei auch Einheiten der russischen Armee beteiligen. Die in der DDR als "Tschechenkrieg" bezeichnete Großfahndung Uckro endet verheerend für die eine Seite, doch wenig rühmlich steigt auch die andere aus.

Rundblick in eine lebendige Comicszene

Der Eindruck, den man im deutschsprachigen Raum gewinnen könnte, dass sich die tschechische Comicszene auf wenige Autoren konzentriert, ist unzutreffend. Das bescheinigt ein spannendes Comicprojekt des tschechischen Vereins Post Bellum, der seit Beginn des Jahrhunderts ein extensives Zeitzeugenarchiv zur Erforschung totalitärer Regime aufgebaut hat:

Im Klagenfurter Drava-Verlag sind zwei Comicbände erschienen, die auf Zeitzeugenschilderungen basieren: Noch sind wir im Krieg. Erinnerungen des 20. Jahrhunderts und Frauen hinter Stacheldraht. Totaleinsatz gewähren Einblicke in erschütternde, aber auch ermutigende Erlebnisse von Zeitzeugen, wie etwa jene der Familie Pecka, die den vor der Stasi geflüchteten Václav Jakes unglaubliche 15 Jahre lang bei sich versteckte.

"Noch sind wir im Krieg"
Foto: Volant & Quist, Drav Verlag

Die Episoden bieten zugleich einen Rundblick in eine lebendige Comicszene: Zeichner und Zeichnerinnen wie Nikkarin, Toy Box, Branko Jelinek gehören zu den bekannten Comickünstlern Tschechiens.

Um den auffallenden Reichtum der aktuellen tschechischen Comiclandschaft noch anschaulicher zu machen, sei auf zwei weitere Beispiele verwiesen. So gehört neben Rudis und Jaromír 99 auch eine Frau, die Zeichnerin und Autorin Lucie Lomová, zu den Pionierinnen des neueren tschechischen Comics.

Nach einer steilen Karriere als Zeichnerin von Kindercomics in den 1990ern hat Lomová zuletzt eine Reihe bemerkenswerter Comics für Erwachsene herausgebracht. Dabei nutzte die Autorin Frankreich geschickt als Sprungbrett, ihr Comic Anna chce skocit (Anna will springen) erschien 2006 erst auf Französisch und ein Jahr danach auf Tschechisch.

Bezeichnend ist, dass der Comic im postkommunistischen Tschechien spielt und auch das Lebensgefühl ihrer Generation in den 90er-Jahren zum Ausdruck bringt. (Martin Reiterer, ALBUM, 16.3.2019)