Der Prager Frühling 1968 hat versucht, einen "Sozialismus mit menschlichem Anlitz" zu schaffen. Nicht mehr viele westliche Studenten zog es nach der Niederschlagung nach Prag. Eine Ausnahme: Richard Swartz.

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Richard Swartz ist einer der raren literarischen Dokumentaristen, die die Dinge auf penible und gleichzeitig großzügige Weise, wirklichkeitsgetreu und mit erzählerischer Kraft darzustellen vermögen. Sein jüngstes Buch Austern in Prag ist in diesem Sinne Memoirenliteratur vom Feinsten – und das nicht, weil es um Austern geht, die es im kommunistischen Prag ohnehin nicht gibt.

Wenn sich der Autor an seine kurze Studienzeit im Prag der frühen Siebzigerjahre erinnert, dann gilt seine Beschreibung mehr einer Fiktion mitten im real existierenden Sozialismus, einem mythischen Prag, das es nur noch in der Literatur oder in Form übrig gebliebener bürgerlicher Zeugnisse wie Austernlöffel gibt.

Eigentlich ist es zunächst eine ganz persönliche Geschichte, die nichts mit dieser Realität aus Vergangenheit und Ernüchterung zu tun hat: Richard Swartz hat gerade den Abschluss einer Stockholmer Eliteuniversität in der Tasche, als ihm klar wird, dass er nicht die von seinem Vater ihm zugedachte Bahn einschlagen will. Um den Ansprüchen seiner Familie zu entfliehen, geht er als Austauschstudent nach Prag, neugierig auf eine seinem bisherigen Leben entgegengesetzte Erfahrung.

Allerdings korreliert die persönliche Geschichte, der Akt der Auflehnung gegen den Vater, mit dem, den die Prager in den Jahren davor versucht haben: "sich gegen den Willen eines anderen zur Wehr zu setzen". Eine Nachschau also am Ort des gescheiterten Widerstands. Tatsächlich sind es nicht viele westliche Studenten, die es damals nach Prag in ein Leben nach dem Frühling zieht. Als Swartz dort ankommt, ist es Herbst, und diese Jahreszeit wird lange nicht mehr aus der Stadt vergehen.

Prag erscheint ihm unpersönlich und gleichgültig, zwar von melancholischer Schönheit, aber "skandalös verwahrlost" und auf eine traurige Art "herrenlos" geworden. In Prag spürt er nicht nur überall den Staub der Braunkohle in der Luft und als schmierige Schicht auf dem Gehsteig, er spürt vor allem eine kulturelle Abwesenheit, seit es hier keine Deutschen und keine Juden mehr gibt. Alles in Prag ist "geschrumpft" und zur Provinz geworden, seine Bewohner leben oder besser überleben in einem Zerrbild der Vergangenheit. "Prag ist eine Ansichtskarte ohne Absender."

Wirklichkeit, die es nicht gibt

In Wahrheit ist alles so unwirklich wie jenes Kino am Stadtrand, in dem auch unmittelbar vor der Vorstellung noch immer nicht klar ist, ob der angekündigte Film auch gespielt, ob überhaupt aufgesperrt wird. In der Erinnerung vierzig Jahre später gerät die Stadtbesichtigung auch zur intimen Selbstbeschau, denn bald muss sich der junge Besucher aus Schweden fragen, was er wirklich hier will.

Er versucht, Teil des Prager Lebens, eines Alltags mit den "stalinistischen Repressionen" an seinen Rändern zu werden, er versucht, Tschechisch zu lernen, und gerät doch nur immer tiefer in eine Wirklichkeit, die es nicht gibt.

Dazu gehören auch seine wechselnden Frauenbekanntschaften: Kaum hat Ela nach langen Erwägungen ihre Unschuld für ihn geopfert, landet er schon bei Janika im Bett, die ihrerseits zwar verlobt ist, aber das mache nichts, solange der Verlobte, der in Karlsruhe lebt, nicht nach Prag komme. In der Rückschau urteilt Swartz nicht gerade charmant über seine Liebschaften: "einzigartige Frauen, deren Welt klein und provisorisch ist" ...

Das gilt übrigens auch für das Prag des realen Sozialismus, wo es keine Staatsbürger, nur Untertanen gibt, wo alles theatralisch, melodramatisch und berechnend zugeht, wo Schein wichtiger als Wirklichkeit ist und jeder jeden auf seine Art betrügt, um der Konfrontation mit der Realität auszuweichen: "Eine Masche läuft im Strumpf, eine Katastrophe in einem Land, in dem die Zeitungen nicht über richtige Katastrophen berichten."

Das ist die Erfahrung, die der schwedische Gast nicht nur bei den Prager Frauen macht, an denen offenbar nur die Strumpfmaschen und das Entsetzen darüber echt sind. Bald kommt es ihm vor, als würde er an einer Operettenaufführung teilnehmen, "bei der alle falsch singen". Die Wahrheit, so sein bitteres Urteil, sei in Prag "nicht besonders üblich oder brauchbar", eine Scheinwelt, in der es zwar Austernlöffel, aber keine Austern gibt.

Widersprüchlichkeit

Kein Bild vermag besser diese Widersprüchlichkeit zwischen dem real existierenden und dem Prag der Metaphern beschreiben, einer großen Theatervorstellung, in der die längst abgeschaffte Wirklichkeit einfach weitergespielt wird, als wäre das Vergangene der Fluch, in Prag nämlich, schreibt Swartz, "ist alles bereits geschehen".

In Antiquariaten entdeckt er immer wieder das "ausgestorbene Deutsch" dieser Stadt: deutsche Bücher, die ihre vertriebenen oder ermordeten Besitzer überlebt haben. So wie sich Prag selbst überlebt hat und sich seine Bewohner, um "zu vergessen, dass sie Untertanen sind", lieber maßlosem Biergenuss hingeben. So kann das System, das sich "Normalisierung" nennt, weiter den Alltag bestimmen.

Nun mag die tschechische Gesellschaft nach dem Ende des Prager Frühlings tatsächlich in Lethargie verfallen sein, aber die war wohl mehr Ernüchterung als jene mythische Traumwelt, wie sie dem jungen Mann aus Stockholm erschienen sein mag. Was zählt, ist dennoch der subjektive Eindruck, und den hat Swartz zu einem Musterstück an Literatur verarbeitet.

Beeindruckend, wie sehr Erzählen und Reflektieren einander durchdringen, wie abstrakte und gleichzeitig symbolische Bilder den Text literarisch aufladen und zu einer dichten Erzählung machen.

Am Ende kehrt der schwedische Student zwar nicht mit einer Dissertation nach Hause – die wäre nämlich als konterrevolutionär abgelehnt worden, dafür mit einem Führerschein, dessen Zustandekommen ein typisch Prager Arrangement war. Schließlich gehört auch der Fahrlehrer jener Wirklichkeit an, die es nicht mehr gibt.

An der Fahrweise seines Schülers hat er nur eines auszusetzen: Er hätte beim Lenken die Ellbogen etwas höher halten müssen. Denn, so gibt er ihm noch mit auf den Weg: "Vergessen Sie nicht, dass alles eine Frage des Stils ist! Das Leben handelt von nichts anderem als Stil." Es ist der schönste Satz im Buch. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 19.3.2019)