Die Beschäftigung mit dem Islam und der islamischen Welt ist längst zur Domäne all jener geworden, die eine "Meinung" dazu haben: Zwischen der meist, aber nicht nur von Muslimen betriebenen Apologetik, die uns vor allem erklärt, was Islam alles nicht ist – auf keinen Fall Radikalismus -, und dem wachsenden Islamhass, der seine Gefühle mit bestenfalls auf Halbbildung fußenden "Beweisen" zu rationalisieren versucht, wird der Raum für die Wissenschaft immer kleiner. Und Islamwissenschafter, die Bücher schreiben, die dazu geeignet wären, in einen breiter angelegten Diskurs einbezogen zu werden, gibt es nur ganz wenige.

Einer davon ist Thomas Bauer, Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster. 2011 hat er schon Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams vorgelegt, ein gewichtiges Werk, das sich mit der Kultur der hohen Ambiguitätstoleranz der arabisch-islamischen Gesellschaften des Nahen Ostens bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts befasst – also genau dem Gegenteil dessen, was dem Islam heute unterstellt wird, nämlich, dass er immer intolerant war und immer so sein wird.

Dazu gleich mehr. Vorher soll erwähnt werden, dass es gewissermaßen einen Ableger dieses Buches gibt, ein 2018 bei Reclam erschienenes, sehr empfehlenswertes schmales Bändchen des Titels Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Hier dekliniert Bauer das Thema Authentizitätsobsession – Ambiguitätsintoleranz – auch anhand anderer Fachgebiete durch.

Der heutigen Ambiguitätsintoleranz des Islam – wer könnte sie bestreiten – stellt Bauer dessen äußerst ambiguitätstolerante Geschichte gegenüber. Ein einfaches und eingängiges Beispiel: Empfanden frühere Islamgelehrte die Varietät der Interpretationsmöglichkeiten des Korans als Bereicherung und versuchten sie womöglich zu erweitern, so wird heute an die einzig gültige geglaubt. Übrigens von Muslimen und ihren Feinden gleichermaßen, die ja mit Koranversen nur so um sich werfen.

Die Rolle des Westens

Der noch wichtigere Punkt ist, wie es zu diesem Verlust von Ambiguitätstoleranz kam. Bauer in der Einleitung: "Viele westliche Islamkommentatoren glauben nun, in dieser Ambiguitätsintoleranz das wahre Gesicht des Islam zu sehen, auch wenn sie in ihr doch nur das eigene Spiegelbild erblicken."

Denn der Westen sei an deren Entstehung beteiligt gewesen. Am Verlust auch der eigenen Lust an Ambiguität hat die Aufklärung und ihre Suche nach Klarheit ihren Anteil (Aufklärung: das liebste Wort der "Islamkritiker", die nur einen einzigen Weg in die Moderne tolerieren).

Thomas Bauer neueres Buch setzt sich mit dem – auch für Europa – schwierigen Begriff "Mittelalter" auseinander, in das ja der Islam oder islamische Gesellschaften angeblich "wieder" fallen. Dass jeder weiß, was damit gemeint ist, ändert nichts daran, dass es historischer Unsinn ist. Wenn es im Nahen Osten kein Mittelalter gegeben hat, weil – nachweislich – die Spätantike andauerte, dann wird die Anwendung dieses Begriffs als zutiefst eurozentrisch entlarvt.

Aber keine Angst, das Buch ist kein Pamphlet, sondern untermauert seine Behauptungen zum Zustand des Nahen Ostens im angeblichen Mittelalter, etwa mit Beispielen von A bis Z, von Analphabetismus bis zu Ziffern.

Gleich zu Ersterem: Während im Westen der Analphabetismus überall außer in der Geistlichkeit die Regel war, belegen Dokumente, dass im Nahen Osten sogar banale Alltagsgeschäfte schriftlich abgewickelt wurden. Oder D, wie Dachziegel, die im Westen, anders als im Nahen Osten, mit der antiken Kultur untergingen. Nach der Lektüre weiß man auch über den Westen mehr. (Gudrun Harrer, ALBUM, 16.3.2019)