Kollektive geben das Versprechen von Offenheit und flachen Hierarchien. Das birgt auch Enttäuschungspotenzial.

Rund 40 Mitglieder zählt die indonesische Künstlervereinigung Ruangrupa, die kürzlich mit der Leitung des Kasseler Großfestivals Documenta betraut wurde.

Foto: Gudskul

Starallüren, elitäre Abschottung, starre Hierarchien und krasse Einkommensgefälle: Der moderne Kunstbetrieb ist entgegen seiner oft behaupteten linksliberalen politischen Selbstverortung nicht gerade ein Hort des Gemeinwohldenkens. Noch immer entscheiden an der Spitze von Museen und Theatern einsame Wölfe und Wölfinnen mit Topgehältern, wer im Konzert der großen Künste mitspielen darf. Jetzt aber geht ein Gespenst um, zumindest in Kassel und Wien. Das Gespenst des Kollektivs.

Rund 40 Mitglieder zählt die indonesische Künstlervereinigung Ruangrupa, die kürzlich mit der Leitung des Kasseler Großfestivals Documenta betraut wurde. Ein Novum ebenso wie die Bestellung des kroatischen Kuratorinnentrios "What, How & for Whom", kurz WHW, als gleichberechtigte Leiterinnen für die Kunsthalle Wien. Was sind die Gründe für die neue Lust an der Kollektivkraft?

Zunächst einmal geben die beiden Kunstinstitutionen Beispiele handfester Anlasspolitik ab. Denn sowohl bei der Documenta als auch im Fall der Kunsthalle kann die jeweilige Kulturpolitik kaum einen Stein auf dem anderen lassen. In Kassel schlitterte man mit der zuletzt von Adam Szymczyk geführten Institution in ein finanzielles Millionendebakel, die Wiener Kunsthalle durchlebte zunächst skandalumwitterte Jahre unter Gerald Matt, ehe sie mit Direktor Nicolaus Schafhausen in einen Dornröschenschlaf verfiel, dem im letzten Jahr nur noch rund 70.000 Besucher beiwohnen wollten.

Vertrauenskrise, #MeToo, alternatives Wirtschaften

Zudem gab es in Österreich in den vergangenen Jahren gleich mehrere unrühmliche Abgänge selbstgefälliger Spitzenkulturmanager. Nicht ohne Grund sah sich die Politik veranlasst, in allen Staatskulturbetrieben Doppelspitzen, rigoroses Vieraugenprinzip und Ethikregeln zu verankern. Schließlich dürfte auch die weltweite #MeToo-Bewegung, die immerhin im Kulturbetrieb ihren Anfang nahm, das Vertrauen in allzu mächtige Solochefs erschüttert haben. Dass sich angesichts dessen so manche Findungskommission nach Alternativen umsieht, die dem fehlbaren Einzelnen ein permanentes Korrektiv hinzufügen, erscheint logisch.

Der Begriff des Kollektivs wurzelt zwar im Marxismus, man muss aber nicht gleich beim Unterdrückerstaat landen, um ihn für das Heute fruchtbar zu machen. Für die Neo-Führungskräfte bedeutet er Inklusion, Offenheit, Kooperation mit anderen und steht dem aus Sport und Wirtschaft stammenden Team entgegen, das vielmehr an Wettbewerbsdenken und Korpsgeist gegenüber anderen erinnert. Kunst begreifen die oft bis in den Sozialbereich hinein wirkenden Kollektive nicht als beliebig verkäufliches Produkt, sondern als Allgemeingut, an dem möglichst alle teilhaben sollen. Diese Ansicht geht heute analog mit erstarkendem alternativen Wirtschaftsdenken, das auf Sharing setzt.

Dabei birgt das große Versprechen auch großes Enttäuschungspotenzial: Führungszirkel, die im Wesentlichen denen von Start-ups ähneln, behaupten zwar oft Hierarchielosigkeit; umso heftiger aber ist der Schock, wenn rhetorisch kaschierte Dominanz doch offenkundig wird. Und bitter ins Auge gehen kann letztlich auch geteilte Verantwortung: Das Wort Kollektivschuld wird man hoffentlich nie bemühen müssen. (Stefan Weiss, 15.3.2019)

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Welche Kollektive gibt es in einzelnen Kunstsparten?

Bildende Kunst

Das Frauentrio WHW gibt es seit 20 Jahren.
Foto: Damir Zizic

"Wer trifft die Entscheidungen? Wie soll das gehen" Als Ende 2018 ruchbar wurde, dass sich auch Kollektive für die Leitung der Wiener Kunsthalle beworben haben, war die Skepsis groß. Ein Festival könne man meinetwegen gemeinsam leiten, aber eine Institution? Was vom Starprinzip dominierten Kunstbetrieb mit Argwohn betrachtet wird, ist in der freien Wirtschaft Usus. Internationale Konzerne haben mit sogenannten Tandemjobs im Management kein Problem. Im Gegenteil: Zwei verfügen über breitere Erfahrungshorizonte und sind als Team belastbarer. Ruangrupa, das Kollektiv aus Künstlern, Architekten, Grafikern, Autoren, Historikern und Politikwissenschaftern, das die Documenta 15 leiten wird, verfügt demnach über vielfältige Expertise. Kollektive haben also die Chance auf Multiperspektive, denn das Kunstgeschehen ist so komplex wie die Welt, die es reflektiert. Mit Konsensfindung und Gruppendynamik vertraut, sind sie vermutlich auch Geheimwaffen im Kontakt mit Communitys. Ganz so neu ist das Kuratieren von Kollektiven obendrein auch nicht: Die Manifesta 8 leiteten sogar gleich drei Kollektive, ganz ohne dramatischen Ausgang. Neben dem Alexandria Contemporary Arts Forum (ACAF), dem Chamber of Public Secrets (CPS) zählte zu diesem Kollektivbündel auch tranzit.org (Mitglied ist u.a. der österreichische Kurator Georg Schöllhammer). Dass man als Kollektiv nicht nur Festivals gestalten, sondern auch eine Institution leiten kann, beweisen die neuen Kunsthallenleiterinnen von WHW seit 15 Jahren mit der Galerija Nova in Zagreb. (kafe)

Architektur

Das neue Superkollektiv Franz & Sue.
Foto: Mirjam Reither

Zwar gab es auch zu Beginn des 20. Jahrhundert bereits große Architektenkollektive wie etwa Nikken Sekkei (Tokio, 1900) und SOM Skidmore Owings and Merrill (Chicago, 1933), doch die wahre Geburtsstunde des im Kollektiv denkenden Architekturbüros liegt in den Sechzigerjahren. In London formierte sich 1960 die Gruppe Archigram. Und nur wenige Jahre später folgten auch in Österreich die ersten avantgardistischen Kollektive nach: Zünd-Up, Missing Link, Coop Himmelblau sowie Haus-Rucker-Co. In den 1990er-Jahren erlebte das Architektenkollektiv eine Renaissance: Junge Boygroups mit kryptischen Namen (Querkraft, Propeller Z, Urban Fish, Sputnic oder L.O.V.E.) haben sich zum Ziel gesetzt, frischen Wind in die Szene zu bringen. Doch diesmal gilt das Miteinander nicht nur der inhaltlichen Revolution, sondern auch dem wirtschaftlichen Überleben. In der Gruppe ist man finanziell potenter und somit auch konkurrenzfähiger in Wettbewerben und Vergabeverfahren. Die jüngste Entwicklung ist die Kollektivierung der Kollektive: 2017 heirateten die beiden Gruppen Franz und SUE und firmieren nun unter Franz & Sue. (woj)

Theater

Rimini Protokoll machen als Trio Theater.
Foto: Heribert Corn

Im Kollektiv zu arbeiten ist am Theater vor allem in der freien Szene eine notwendige Praxis. Teamwork schafft Synergien. Es steigert das kreative Potenzial und ermöglicht die Verwirklichung von Eigenwilligkeiten. Dabei sind die Hierarchien mehr oder weniger flach. Manche Leitungskollektive kamen auch im Nachhall von 1968 zustande. Sie glichen Vorgriffen auf eine erst zu schaffende politische Praxis. Die Modelle von Berliner Schaubühne oder Frankfurter Schauspiel waren Mustergüter: Entscheidungen von Tragweite (Was wird gespielt? Wer kauft das Klosettpapier ein?) wurden kollektiv gefällt. Beruht das 1961 in New York gegründete La-MaMa-Theater eher auf klassischer Aufgabenteilungen zwischen Leitung und Team, ähnlich Forced Entertainment aus Sheffield (Chef: Tim Etchells), so arbeiten die Katalanen von La Fura dels Baus (gegründet 1979) oder das Autoren-/Regiekollektiv Rimini Protokoll (seit 2002) gleichberechtigter. Dagegen sind Leitungsduos an institutionalisierten Theaterhäusern die Ausnahme. Allerdings wird neuerdings immer mehr dafür geworben, siehe die Neubesetzung des Wiener Volkstheaters. (afze, poh)

Film

Berlinale-Duo Chatrian und Rissenbeek.
Foto: Imago / Emmanuele Contini

Wenn man spitzfindig sein will, könnte man jeden Film als Resultat einer kollektiven Anstrengung bezeichnen – auch in Hollywood, wo man sich lange als "professional" im Team verstand. Kollektive mit emanzipatorischer Logik bildeten sich vor allem dort, wo es um Bewusstseinsbildung ging. Ein Beispiel ist das 1983 in London gegründete Black Audio Film Collective, innerhalb dessen Arbeiten realisiert wurden, die auch ein Stück Selbstermächtigung waren. Beliebt waren Kollektive auch im Avantgardebereich, etwa das Collective for Living Cinema in New York, das die Grenzen zwischen Experimentalfilm und Industriekino aufzulösen suchte. In Österreich formte sich mit dem Filmladen Mitte der 70er-Jahre ein Kollektiv, aus dem später der Verleih hervorging. Ruth Beckermann machte hier ihre ersten Versuche von politischem Kino. Gegenwärtig gibt es kaum relevante Nachfolgeprojekte. Selbst im institutionellen Bereich wie Festivals wird gern an einer Person festgehalten. Immerhin die Berlinale bekommt – wie die Grazer Diagonale – mit Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek nächstes Jahr ein Doppelspitze. (kam)