Gratis-iPads im Klassenzimmer sorgen für Schlagzeilen, ein Plan für die Digitalisierung sind sie gewiss nicht.

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Wann immer es um das Thema Digitalisierung geht, wird die Zukunft in den dunkelsten Farben gemalt. Maschinen und Algorithmen werden immer komplexere Tätigkeiten übernehmen und Millionen Arbeitnehmer ihren Job verlieren. Doch die Vergangenheit hat gezeigt, dass durch technische Neuerungen stets auch neue Jobs entstanden sind. Berufe wie App-Entwickler, Social-Media-Manager oder Big-Data-Analyst kannte man vor geraumer Zeit noch gar nicht. Und so sind auch viele zukünftige Jobs heute noch völlig unbekannt. Die Frage ist, wie sich ein Land auf eine von vielen Unbekannten dominierte Zukunft überhaupt vorbereiten kann.

Wie es gehen könnte, zeigen die Esten. Das kleine baltische Land ist flächenmäßig etwas größer als die Schweiz, hat aber weniger Einwohner als Wien – dafür eine funktionierende Strategie, wie Digitalisierung zur Chance wird. Bereits nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erkannte die politische Führung die neuen Möglichkeiten. Statt die Verwaltung westlicher Staaten zu kopieren, sahen die Esten schon in den frühen 1990er-Jahren in der Digitalisierung die Zukunft.

Serviceorientierte Verwaltung

Jeder Verwaltungsgang kann heute digital wie analog erledigt werden – ausgenommen sind nur Eheschließungen und der An- und Verkauf von Immobilien. 504 staatliche Behörden bieten den Bürgern 2691 verschiedene Dienstleistungen an. Nach Schätzungen der estnischen Regierung spart dies den Behörden 1407 Jahre an Verwaltungsaufwand – jedes Jahr! Auch Generationen, die ohne Internet aufgewachsen sind, nehmen daran teil: Der Anteil der über 55-Jährigen, die die digitale Verwaltung nutzen, ist in Estland doppelt so hoch wie hierzulande.

Bürokratie wurde vom unangenehmen Verwaltungsaufwand zur Serviceleistung für die Bevölkerung. Staat und Bürger stehen sich nicht gegenüber, sie sind Verbündete. Daher versteckt der Staat auch nichts vor seinen Bewohnern. Transparenz wird in diesem kleinen Land großgeschrieben. Jede Abfrage persönlicher Daten ist für den Bürger einsehbar und muss verständlich und nachvollziehbar begründet sein. Heute gilt Estland aber nicht nur in der digitalen Verwaltung als Vorzeigenation. Im Digitalisierungsindex der EU-Kommission teilt man sich mit Finnland die Spitze, bei der Cybersicherheit liegt man auf Platz eins.

Modernes Bildungssystem

Bildung ist der entscheidende Schlüssel für Estlands erfolgreiche Umsetzung der digitalen Strategie. In internationalen Vergleichen rangiert man im weltweiten Spitzenfeld, weit vor reicheren Ländern wie Deutschland oder Österreich. Die Möglichkeiten der Digitalisierung sollen aber kein Nischenprodukt für die gebildete, junge Elite sein. In öffentlichen Schulen wird der Umgang mit digitalen Werkzeugen flächendeckend gelehrt und das bereits seit vielen Jahren. Darüber hinaus gibt es ein intensives Weiterbildungsprogramm für Erwachsene.

Der Trick, mit dem es Estland geschafft hat, das Bildungssystem zu modernisieren, ist Autonomie gepaart mit den richtigen Anreizen. Nimmt eine Schule an einer kritischen Selbstevaluierung teil, damit die Regierung Schulprojekte vergleichen kann, bekommt die Bildungseinrichtung mehr Geld, mit dem etwa neue Computer angeschafft werden können. Bildet sich ein Lehrer weiter, bekommt er ein höheres Gehalt. Die Bereitschaft kommt aber von der Basis, wird also nicht von oben verordnet – und das ist entscheidend.

In Österreich entscheidet die Politik, dass sie Laptops und Tablets im Unterricht haben will, weil die Digitalisierung eben wichtig sei. In Estland stehen zwar in sämtlichen Schulen Internet und Computer zur Verfügung. Ob und in welchem Ausmaß diese im Unterricht zum Einsatz kommen, ist der Regierung, dem Ministerium oder der Schulleitung egal, solange die vorgegebenen Lernziele erreicht werden. Digitalisierung soll nicht nur gelehrt werden. Sie soll genutzt werden, um die Bildung der Kinder zu verbessern. Es sollen nicht Generationen von Programmierern "herangezüchtet" werden. Aber bereits in den ersten Schuljahren programmiert in Estland jedes Kind; spielerisch mit einer Spielzeug-Biene oder einem Lego-Roboter, die gesteuert werden müssen. So sollen die Kinder verstehen, wie Computer funktionieren, damit sie diese im späteren Leben für sich zu nutzen wissen.

Nicht von oben diktiert

In einer langfristigen Strategie analysiert das Bildungsministerium die Schulerfolge. Erfolgreiche Projekte werden so zum landesweiten Standard. Ziel hierbei ist es, dass die Digitalisierung bestmöglich im Klassenzimmer ankommt. Die Lehrpläne werden also laufend verbessert und an technische Gegebenheiten angepasst.

Wird die Maßnahme von oben diktiert, lässt der Widerstand nicht lange auf sich warten. Werden die Lehrer nicht in den Entstehungsprozess eingebunden, kann es passieren, dass sich die Pädagogen kurzerhand querstellen. Dass wir es mit dem österreichischen Zugang schwerer haben werden, Digitalisierungsgewinner zu produzieren, dürfte nicht überraschen.

Digitale Bildung bedeutet eben weitaus mehr, als nur Programmieren zu lernen. Mithilfe von Computerprogrammen kann jeder Schüler im eigenen Tempo den Unterrichtsstoff abarbeiten. Der Lehrer wird für seine pädagogischen Aufgaben freigespielt. So hat die Lehrkraft mehr Zeit für eine individuelle und intensivere Betreuung der Schüler. Dies kommt besonders den Lernschwächeren zugute: Sie werden nicht zurückgelassen. Der Anteil an Schülern, die in Estland bei den Pisa-Befragungen nur eine geringe Punktzahl erreichen, sogenannte Low-Achiever, ist halb so hoch wie in Österreich. Der Durchschnitt gehört zur weltweiten Spitze, und die Gruppe der Top-Performer ist doppelt so groß wie hierzulande.

Die besten Lehrer

Schule wird in Estland auch anders gelebt. Die Schulen sind für die Schüler da und sind teilweise mehr als 15 Stunden am Tag geöffnet. Die Schulleitung versteht sich als Manager: Wie bekomme ich die besten Lehrer? Wie motiviere ich sie? Zudem wird das Schulprogramm immer wieder überprüft und adaptiert. Estland ruht sich auf seiner Spitzenposition nicht aus. Angesichts der enormen demografischen Herausforderung in dem kleinen Land ist das auch keine Option.

Sollen Schüler die beste Bildung und optimale Voraussetzungen für die Zukunft bekommen, braucht es in Österreich keine Laptopklassen. Es braucht eine Strategie, die das Bildungssystem aus der Kreidezeit ins 21. Jahrhundert befördert. Dazu reicht es nicht aus, mit Gratis-iPads für Schlagzeilen zu sorgen. Es braucht einen Plan, wie die Infrastruktur bereitgestellt, die Lehrer qualifiziert und motiviert, Lehrinhalte erzeugt, Werkzeuge ausprobiert sowie Unterrichtsmethoden verglichen und verbessert werden. Setzt Österreich dies um, dann sieht die Zukunft für unsere Kinder weit weniger düster aus. (Hanno Lorenz, Wolfgang Nagl, 17.3.2019)