Zeitungen in Neuseeland und Australien zeigten teils die Perspektive des Täters, teils jene der Opfer auf den Titelseiten.

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Wien – Eine Erkenntnis gehört zu den bizarreren Elementen des rechtsradikalen Terroranschlags von Christchurch: Über jenen Mann, der am Freitag zwei Moscheen in der größten Stadt der neuseeländischen Südinsel stürmte und dort 50 Menschen ermordete, ist zugleich viel und wenig bekannt. Wenig, weil die neuseeländischen und australischen Behörden über den Täter Brenton T. abseits seines Namens nur sehr wenig öffentlich bestätigen. Viel, weil zahlreiche Medien seit Bekanntwerden der Tat umfangreich aus einem 74-seitigen Schriftstück zitieren, das dem mutmaßlichen Massenmörder zugeschrieben wird.

Das hat nicht nur für Zustimmung gesorgt. Vor allem die englischsprachige Medienwelt musste sich am Wochenende gegen massive Kritik wehren, sie stelle dem Täter durch die breite Wiedergabe seines "Manifests" Raum zur Verbreitung seiner Thesen zur Verfügung. Dem gegenüber steht das Argument der Informationspflicht und des öffentlichen Interesses – und die Ansicht, dass auch verantwortungsvolle Medien über die Gedankenwelt des Attentäters berichten müssten, um das Feld nicht jenen zu überlassen, die sich nicht an qualitätsjournalistische Maßstäbe halten. Eine Balance zu finden fiel vielen über das Wochenende schwer.

"Here's Your Migration Compact"

Das mag auch daran liegen, dass das Schriftstück, das T. hinterlassen hat, in seiner Gesamtheit nicht ganz einfach zu subsumieren ist: In Teilen greift es, wie das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) in einer Kurzeinordnung attestiert, "Gedanken auf, die in vielen Ländern Europas inzwischen in den politischen Mainstream Eingang gefunden haben": Angst vor einem Ungleichgewicht der Geburtenraten "autochthoner" Bevölkerungen und jener, die als fremd punziert werden, Sorge über einen Krieg der Kulturen, Gegnerschaft zu Zuwanderung. Auf seine Waffe schrieb T. die Worte "Here's Your Migration Compact" – in Anlehnung an die UN-Initiative, die in auch in Österreich unter der inexakten Bezeichnung "UN-Migrationspakt" hohe Wellen schlug.

Zeigt das, welche Folgen lockerer Umgang mit xenophober Rhetorik haben kann, so ist das berichtenswert. Oder übernimmt T. bewusst Ideen, die bei seinem gewünschten Publikum schon verankert sind, um dieses für seine Taten zu begeistern? Dann besteht die Gefahr, die Rekrutierungsarbeit des Täters mitzuübernehmen.

Lange rechte Reihe

Eines jedenfalls ist klar: T. stellt sich mit dem "Manifest" in eine lange Reihe von Schriftstücken, mit denen ähnlich motivierte Täter vor ihm ihre Anschläge rechtfertigten und zu weiteren Taten aufriefen. Er selbst erwähnt in seinem Text den norwegischen Kinder-Massenmörder und Rechtsterroristen Anders Breivik und dessen mehr als 1.500 Seiten langes "Manifest" als Motivation. Ähnliche historische Bezüge wie T. – etwa auf die Türkenbelagerung Wiens 1683 und Ernst Rüdiger von Starhemberg – sind auch in den Bekennerschreiben für die österreichische Briefbombenserie der 1990er-Jahre zu finden, für die Franz Fuchs verurteilt wurde.

Auch der radikale Rassist Dylan Roof, der 2015 in Charleston, South Carolina neun Menschen in einer von Afroamerikanern besuchten Kirche erschoss, nahm Bezug auf Brevik und dessen "Manifest". Gleichfalls Thomas Mair, jener Mann, der 2016 während der Brexit-Kampagne die Labour-Abgeordnete Jo Cox ermordete.

Die Nachahmungsgefahr beschränkt sich aber nicht auf politisch motivierte Anschläge: So gaben auch der Täter des Schulamoklaufs von Newtown und jener 18-Jährige, der 2018 in einem Münchner Einkaufszentrum neun Menschen erschoss, Breivik und dessen Methoden als Vorbilder an.

Diffuses und Konkretes

Neben der Ablehnung von Zuwanderung, bei der T. viel Diffuses aufgreift, wird er in anderen Bereichen konkreter – und sorgt doch, womöglich bewusst, für Verwirrung. Einerseits schreibt er über die "14 Words", die Anhänger eines weißen Überlegenheitsdenkens als Code für ihren Hassfeldzug gegen alle anderen verwenden, und über seiner Verehrung für den britischen Faschistenfrüher der 1930er-Jahre, Oswald Mosley. Daneben referenziert der Christchurch-Attentäter aber auch Obskureres: Die lobende Erwähnung der afroamerikanischen Internetaktivistin Candace Owens und des mit rechten Frames spielenden Youtubers PewDiePie sorgte kurz nach der Tat für eine Welle von Erwähnungen beider Personen – auch etwa durch den Autor dieses Textes am Freitag im Livebericht des STANDARD.

Vermutlich handelt es sich dabei aber um falsche Fährten, die in der schnellen Berichterstattung missinterpretiert wurden: Sowohl Owens aus auch PewDiePie gelten in den häufig weit rechts angesiedelten Internetforen, in denen T. schon vor der Tat aktiv gewesen sein dürfte, als populäre Figuren – nicht aber, weil sie unbedingt Zustimmung der dort aktiven User erlangen, sondern vor allem, weil sie zum Stoff rechter Memes geworden sind. Das Gleiche gilt für den ursprünglich von serbischen Nationalisten als Referenz auf den Balkankrieg gebrauchten Song "Remove Kebab", der im von T. geposteten Livevideo des Massenmordes im Hintergrund zu hören ist.

Was tun mit Österreich-Bezügen?

Dass sie alle in T.s Inszenierung vorkommen, soll offenbar die Nähe zur diffus-rechten Internetszene demonstrierten – und dort für Zustimmung sorgen. Als "ideologische Motivationen", für die viele Berichte sie hielten, dienen sie T. wohl nicht – wohl aber schafft ihre Erwähnung weitere Aufmerksamkeit für sein "Manifest". Und sie schafft auch Überschneidungen mit einem weiteren Ableger dieser Szene: jenem der "Incels", sich sexuell missachtet fühlender junger Männer, die vermeinen, "Rache" an der Welt nehmen zu müssen. Auch diese Szene hat ein Nachahmerproblem: Seit Medien 2014 breit über ein "Manifest" des 22-jährigen Kaliforniers Elliot Rodger berichteten, in dem er seinen Amoklauf und den Mord an sechs Menschen zu begründen versuchte, gilt er in Teilen der Szene als Star. Jener "Incel", der im April 2018 zehn Menschen bei einer Amokfahrt in Toronto tötete, bezog sich auf ihn.

Doch gibt es nun einen richtigen Umgang mit Schriftstücken wie jenem, das der mutmaßliche Täter offenbar hinterlassen hat? Wie ist mit offenkundig Berichtenswertem – etwa einer prominenten Erwähnung Österreichs in einer eher willkürlich wirkenden Liste angeblicher "Bruderstaaten" – in dem "Manifest" umzugehen? Völlig ignorieren lassen sich Schriftstücke wie jenes von T. wohl kaum. Für Videos von der Tat und das "Manifest" bietet sich aber vielleicht eher an, was Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern nach dem Anschlag dazu sagte: "Man sollte diese Gewalttat und die dahinterstehende Botschaft nicht vervielfältigen, teilen oder ihm weiter Sauerstoff zuführen. Helfen wir nicht, die Botschaft des Hasses zu teilen!" (Manuel Escher, 18.3.2019)