Als die Avantgarde noch jung war: Ingrid Wiener mit Dominique Steiger, Kurt Kalb, Walter Pichler, Christian Ludwig Attersee, Ernst Graf und Oswald Wiener (v.li).

Christian Skrein, Wien-Museum

Wien – Im Herbst 1974 fand in Berlin eine Veranstaltung statt, die im Rückblick als legendär gilt: Selten gehörte Musik war mehr als ein Konzert. Es war eine Art Quintessenz aus Aktionskunst und Happening, eine Verlängerung von Sixties-Entgrenzungen ins Atonale und in den wilden Klang. Stars wie Dieter Roth, Hermann Nitsch, Günter Brus und Oswald Wiener waren dabei.

Ergänzend zur Musik gab es auch eine Leibspeisenkarte: Naturschnitzel mit Reis im Fall von Oswald Wiener. Zubereitet wurde von seiner Frau: Ingrid Wiener, Mädchenname (so nannte man das noch) Schuppan, geboren in Wien. Sie war Köchin in dem Kreuzberger Lokal Exil, das heute nicht minder legendär ist wie der exilösterreichische Künstlerzusammenhang (mit Wahlverwandten wie Dieter Roth), aus dem die selten gehörte Musik kam.

Die gute Nachrede

Die Männer, die damals auftraten, sind längst Teil des Kanons der Künste im 20. Jahrhundert. Ingrid Wiener hingegen hatte bisher vor allem eine gute Nachrede: Ihre Kochkunst wird gerühmt, manche wissen auch, dass sie selbst Kunst macht. Sie bedient sich dabei einer Kulturtechnik, bei der die Assoziationen deutlich Richtung Frauensachen gehen: Sie webt.

In einer anderen Zeit hätte man sie vielleicht als Muse bezeichnet, aber diese Vorstellung von einem männlichen Schöpfer und einer weiblichen Umsorgerin ist aus guten Gründen als mythologisch durchschaut.

"Die Totalrevolution"

Die Journalistin Carolin Würfel hat Ingrid Wiener nun ein Buch gewidmet, das mit dem Untertitel Die Kunst der Befreiung. Wien 1968 – Berlin 1972 auch andeutet, dass man es hier mit einem spannenden Kapitel aus der Hochphase der gesellschaftsrevolutionären Aufbrüche der ersten Nachkriegsgeneration zu tun hat. Dabei sind es auch die Männer, die das große Wort führen. Von "Totalrevolution" spricht Oswald Wiener, der Mann, den Wiener geheiratet hat und mit dem sie heute in der Steiermark lebt.

Sie sieht sich hingegen eher als "pragmatische Tussi", eine kokette Umschreibung ihrer Bemühungen, einen eigenen Raum zu finden, in dem es nicht nur um die Leibspeisenkarten von Männern geht.

Ab auf die Handelsschule

Am interessantesten sind die Erzählungen aus Wieners Jugend: Die Matura hat ihr ein Lehrer verdorben, der dafür sorgte, dass sie auf eine Handelsschule geschickt wurde. In den Begriffen der Zeit hätte man Ingrid Schuppan wohl als "frühreif" bezeichnet. Sie ist der sexuellen Revolution persönlich um einiges voraus, verschafft sich Freiräume – und landet im Umfeld der Wiener Gruppe.

Carolin Würfel erzählt die Geschichte von Ingrid Wiener weitgehend auf Grundlage von Gesprächen, vor allem mit der Protagonistin selbst. Damit sind Grenzen auch des systematischen Anspruchs gesetzt.

Man merkt, dass sich Würfel mit der Kunst der damaligen Zeit eher oberflächlich beschäftigt hat: Das ist die entscheidende Schwäche. Denn damit geht die Möglichkeit verloren, Wieners interessante Geschichte mehr als nur anekdotisch in Kontexte zu setzen. Etwa deutlich analytischer zu ihrer Freundin Waltraud Höllinger aka Valie Export. (Bert Rebhandl, 18.3.2019)