Zeit mit den Bewohnerinnen und Bewohnern eines Pflegeheims verbringen: Abwechslung für beide Seiten.

Foto: www.corn.at , Heribert CORN

Es ist ziemlich still im vierten Stock eines Pflegeheims in Wien. Rund sieben Bewohnerinnen und Bewohner sitzen in Rollstühlen um Tische herum, beobachten aufmerksam das ruhige Treiben des Pflegepersonals oder blättern in herumliegenden Zeitungen.

Ich bin hier, um mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des Heimes ins Gespräch zu kommen. Dieser "Plaudernachmittag" ist ein Angebot der Caritas, Betreiberin des Heimes, und richtet sich an Freiwillige, die für eine gute Tat zu haben sind, entweder als Privatpersonen oder im Rahmen von Kooperationen mit Unternehmen. Von der Leitung des Hauses wird das Angebot dankbar angenommen. Die heutigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden zunächst – alle zum ersten Mal hier – durchs Haus geführt. Die Atmosphäre ist professionell, freundlich und liebevoll. Es wird gegrüßt und gelacht, alles ist auffällig sauber und gepflegt.

Aller Anfang ist schwer

Mit einem strahlenden Lächeln stellt mich die Sozialbegleiterin der mir zugewiesenen Station und den Bewohnerinnen und Bewohnern vor und erzählt mir ein wenig über sie. Eine ältere Dame ist ganz fit im Kopf, kann aber nach einem Schlaganfall nicht sprechen. Eine andere Dame tratscht sehr gerne und freue sich schon auf mich. Eine weitere Bewohnerin, kerzengerade im Rollstuhl sitzend, elegant gekleidet, ihre weißen Haare perfekt gekämmt und mit einer wunderschönen Brosche zusammengehalten, erschrickt, als sie mich sieht. Ich bin zunächst verunsichert, lächle sie aber an, ihre Gesichtszüge entspannen sich.

Aller Anfang ist schwer, denke ich, atme tief durch und setze mich zu einem netten Ehepaar, das mich beobachtet. Er, 88 Jahre alt, besucht fast täglich seine Frau, die er zu Hause nicht mehr allein pflegen konnte. Wir reden über die Familie, Autofahren, Sport. Beide sind bis ins hohe Alter Ski gefahren, vermissen den Berg. Er führt Konversation, sie nickt ab und zu, lächelt bemüht. Der Einstieg ist geschafft, mir wird warm ums Herz.

Eine tiefe Traurigkeit macht sich breit

Das Vorlesen klappt nicht so gut. Die Nachrichten vom heutigen Gratisblatt sind deprimierend, erzählen nichts vom Leben, nur von Dramen. Das will die in sich versunkene Dame, die sich beim Reden schwertut, bestimmt nicht hören. Und ich übrigens auch nicht. Ihre blauen Augen sind neugierig, suchen mich, blicken mich direkt an. Sie erzählt von sich, fragt aber auch nach meinem Leben, will Fotos meiner Kinder sehen. Sie schaut sie sehr genau an, nickt, findet Gefallen an ihnen, das rührt mich. Mit sechs Jahren wurde sie von ihrer Mutter getrennt und musste zu ihrer Tante nach Wien ziehen, erzählt sie. Das war damals so, im tiefen Burgenland, da gab's sonst keine Aussichten. Sie greift nach einem Taschentuch, Tränen rollen ihr die Wange runter. Eine tiefe Traurigkeit macht sich breit, obwohl die Ursache dafür schon so viele Jahre zurückliegt. Ich berühre behutsam ihren Arm, ihr Körper fühlt sich warm und weich an.

Ein klirrender Rollwagen kündigt kurz darauf die Jause an. Voller Energie verteilt das Pflegepersonal Kuchen mit Saft, jeder Bewohner wird persönlich angesprochen, zum Essen animiert, bei Bedarf dabei unterstützt. Meine Plauderdame verweigert zunächst meine Hilfe, ist aber dann doch dankbar, als ich sie beim Essen ein wenig unterstütze. Das Lätzchen bleibt sauber. Sie kann sich auf das Gespräch konzentrieren statt auf die Gabel. Es geht um ihren Mann. Er war ein Braver: kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Weiber. Wie viele Jahre er denn schon tot sei? Sie denkt nach, grübelt, senkt den Kopf. Dann blickt sie mich schelmisch an und beteuert, das Denken funktioniere heute einfach nicht. Vielleicht morgen. Dabei lächelt sie, von Bitterkeit oder Resignation keine Spur. Vom Kuchen bleibt kein Bissen übrig.

Schach nach vier Zügen

Als die meisten Damen liebevoll von den Pflegerinnen in ihre Zimmer gebracht werden, um sich auszuruhen, bleibt ein Mann an einem Tisch allein sitzen. Sein kritischer Blick verrät, dass ihm nicht zum Plaudern zumute ist. Ich geselle mich zu ihm. Widerstrebend gibt er ein wenig von sich preis. Feuerwehrmann, seit einem Jahr hier, viel zu weit weg von zu Hause. In den Einsatzpausen Schach gespielt. Ob er Lust auf eine Partie hätte? Oh nein. Ich hole trotzdem das Spiel, frage noch einmal nach. Mein Gott, na, wenn ich unbedingt will. Nach vier Zügen hat er meinen König im Visier, ich kann einem Schachmatt nur knapp entgehen. Er lacht wissend, Stolz funkelt in seinen Augen. Dass sein letztes Schachspiel 30 Jahre zurückliegt, kann ich nicht glauben. Die Partie geht voran, meine Figuren schwinden dahin. Dann werde ich gerufen, die Zeit sei um, viel zu früh, so scheint es mir. Zum Abschied winkt er mir.

Auf Freiwillige angewiesen

Rund 160 Bewohnerinnen und Bewohner zählt das Heim, in verschiedenen Pflegestufen eingeteilt. Um sie kümmern sich bis zu 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, oft in Teilzeit. Man muss schon ein wenig selbstlos sein, wird uns gesagt, um hier zu arbeiten. Wer es zulässt, und das tun hier fast alle, bekommt aber viel zurück. Neben der Pflege und Betreuung kommt aber auch die Freizeitgestaltung für die Bewohnerinnen und Bewohner nicht zu kurz. Täglich werden Aktivitäten angeboten, es gibt eine Malgruppe, Konzerte, Ausflüge. Für diese ist die Heimleitung allerdings auf Freiwillige angewiesen, für jeden Heimbewohner braucht es einen eigenen Begleiter. Jeder sei willkommen.

Draußen ist es kalt, ein eisiger Wind bläst. Aber die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Plaudernachmittags, mich eingeschlossen, sind zufrieden. Manche mehr, manche weniger. So wie im echten Leben auch, gibt es auch hier Bewohnerinnen und Bewohner, bei denen mehr Zeit und Geduld erforderlich ist, um ihnen Geschichten aus ihrer Vergangenheit zu entlocken. In einem Punkt sind wir uns alle einig: Zum Glück gibt's die Caritas!

Ich blicke noch einmal zurück. Vielleicht komme ich wieder, ich muss ja noch eine Partie Schach fertigspielen. Aber vorher werde ich ein wenig üben, um ein Schachmatt so weit wie möglich hinauszuzögern. (Vanessa Salzer, 20.3.2019)