Hakon Stokka schoss dann den Vogel ab. Aber was sonst hätte man von jemandem erwartet, der sich auf seinem Insta-Account als "Viking by Blood" vorstellt – obwohl er im wirklichen Leben ein sehr umgänglicher Zeitgenosse ist? Hakon jedenfalls war es nicht genug, gerade selbst einen Marathon gelaufen zu sein: Er hängte noch eine dritte (21k-)Runde an – um Ed Gamester zu begleiten. Denn der Viertplatzierte der britischen Strongest Man Challenge kämpfte da schon hart. Irgendwo draußen auf dem Eis: Es war Gamesters erster Marathon. Er war bisher nie wirklich gelaufen (ein paar kurze Obstacle-, Celtic- und Spartan-Sprints ausgenommen). Und wirkte an den Labestellen stehend k. o. Dann kam Stokka und schwang seine Axt. Das wirkte: Ed Gamester kam ins Ziel. Und wir waren uns nicht sicher, ob das eher "Game of Thrones" oder "Vikings" war.

Foto: ©http://icebugx.com/

Tatsächlich war das hier aber weder eine Netflix- noch eine Amazon-Serie, sondern die Wirklichkeit: Irgendwo im norwegischen Nirgendwo, 170 Kilometer nördlich von Oslo, liegt Gol. Man kann hier Ski fahren und langlaufen. Es gibt einen See. Einen Stausee. Der liegt 890 Meter über dem Meer und ist 20 Meter tief. Wichtiger ist: Der Tisleifjorden ist sechs Monate im Jahr zugefroren.

Die Eisdecke ist etwa 80 Zentimeter dick. Dick genug, um darauf mit Autos zu fahren: Auf dem See testen Reifenhersteller ihre Winterreifen. Polizeieinheiten üben Verfolgungsjagden. Autolabels und Offroadklubs halten Fahrtrainings ab. Seit Jahren. Vergangenen Samstag wurde hier aber auch gelaufen. Zum ersten Mal: beim Icebug Frozen Lake Marathon.

Foto: Luftaufnahme ©icebug.com

Genau genommen war es der zweite Lauf auf dem See: Im Vorjahr hatte der schwedische Laufschuhhersteller Icebug einen kurzen Testlauf veranstaltet. Um zu sehen, ob und wie so ein Event funktionieren könnte: Man reservierte Eiszeit zwischen den Auto-Slots, lud ein paar Läufer ein – und ließ eine Drohne steigen: Das Wetter war genial.

Die Bilder ebenso. Erst danach bemerkte man, dass die Drohnenkamera phantastische Videoaufnahmen, aber keine hochauflösenden Fotos gemacht hatte. Egal: Das Bildmaterial tauchte – mehr oder weniger "random" und in etlichen Versionen – an 1.000 Orten im Web auf. Nicht intensiv genug, um wirklich viral zu gehen – aber doch so gut, dass Träume entstehen konnten.

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Auch bei mir. Das erste Mal hörte ich vom Frozen-Lake-Lauf vergangenen Herbst. Während des Westcoast Trails erwähnte eine der Icebug-PR-Damen en passant das Projekt. "Sounds great", sagte ich. "You are invited." Wir lachten: Smalltalk am Lagerfeuer nimmt niemand ernst.

Ein paar Monate später, im November, lernte ich beim Great Ethiopian Run Sara Škarabot Pedersen kennen. Sara ist Redakteurin bei "Runner's World Norwegen". Wir plauderten über besondere Läufe in unseren Heimatländern – und sie sagte "Frozen Lake". Ich schluckte: "This Icebug-thing?" – "Ja, wir sind Co-Veranstalter. Willst du kommen?" Drei Tage später rief die deutsche PR-Dame der schwedischen Trailschuhmarke an: Ob ich Lust hätte, nach Norwegen zu kommen. Außer mir wäre lediglich eine Redakteurin von "Runner's Word Deutschland" – Britta Ost, hier im Bild – auf der Liste.

Foto: thomas rottenberg

Ich liebe Skandinavien im Allgemeinen – und Norwegen im Besonderen. Die Weite. Die Leere. Die Schönheit der Stille … Klischees? Ja. Na und?

Ich weiß, warum es Menschen hierher zum Skitourengehen zieht: Ich war – vor Jahren – schon mehrmals in Norwegen skibergsteigen. Hier laufen? Natürlich sagte ich zu. Kälte macht mir beim Laufen relativ wenig aus. Das mit dem Eis, dachte ich, würde ich schon irgendwie hinkriegen: So anders würde das doch nicht sein. Und mit ein bisserl Glück würde es daheim im Winter irgendwann kalt genug sein, dass ich auch mehr als einmal mit Spikeschuhen den WEV-Platz rauf- und runterlaufen können würde.

Foto: thomas rottenberg

Natürlich ist es leicht irre, zum Laufen nach Skandinavien zu reisen. Auch wenn es so ein Setting dann bei uns halt doch nicht gibt. Aber der Flug nach Norwegen (und zurück) ist, wenn man nicht ganz ungeschickt bucht, günstiger als die Zugfahrt von Wien auf den Arlberg (ohne Sparschiene oder Vorteilscard). Das erklärten mir auch die rund 50 österreichischen und 20 slowakischen Skitourengeher, die mit mir im Flieger saßen (und die am Airport in Oslo dann in der Heerschar von Richtung Lyngen weiter fliegender Skifahrer sofort untergingen).

Und auch das Dutzend Wiener Langläufer, das ich dann am Rückflug traf, sagte, dass die Reisekosten kein Faktor wären: Sie waren zum legendären Birken Ski Festival – einem 54-Kilometer-Langlaufrennen nach Lillehammer – gereist: "So etwas gibt es bei uns halt nicht."

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Aber unter den Läufern in Gol war ich nicht der mit der weitesten Anreise: Gut, die Inder und Pakistani leben in London. Der Pole und die Slowakin pendeln zwischen Göteborg und England oder waren mit Freunden aus den Niederlanden oder Frankreich gekommen. Britta, die deutsche "Runner's World"-Redakteurin, stammt aus Hamburg. Für Dänen, Schweden und Norweger sind Kurzstreckenflüge oder mehrstündige Autofahrten an Orte wie Tisleifjorden "Heimspiele".

Aber da war auch David: David Tay stammt aus Singapur. "In Singapur gibt es weder Schnee noch Eis noch Berge. Bei uns ist es immer heiß und feucht – aber als ich von diesem Lauf gehört habe, wusste ich, dass ich dabei sein will. Weil er an meinem 60. Geburtstag stattfindet: Dieses Geschenk musste ich mir machen." David lief – eh klar – den ganzen Marathon. An der letzten Labe spielte man seine Hymne: "I did not know: Should I keep on running or stand still? What do you do, if you hear your national anthem in the middle of nowhere?"

Foto: thomas rottenberg

Raceday. Das Wetter war ein Traum: Ein paar Wolken, durch die die Sonne blinzelte. Laut Hotelthermometer und lokaler Wetterhomepage hatte es minus 10 Grad. Es fühlte sich wärmer an.

Egal: Wichtig war, dass es windstill war. Denn auf dem 13 Quadratkilometer großen See wären wir dem Wind schutzlos ausgesetzt gewesen. Und bei Minusgraden braucht der gar nicht heftig zu blasen, dass der Windchill brutal ist.

Foto: thomas rottenberg

Die Zahl der Teilnehmer war bewusst niedrig angesetzt. Auf 500 Startplätze: Um Autos zu tragen, genügt angeblich eine Eisschicht von nicht einmal zehn Zentimetern. Allerdings trampeln Autos nicht. 1.000 Füße, die – im schlimmsten Fall zufällig im gleichen Rhythmus – auf Eis hämmern, sind was anderes. Da geht man auf Nummer supersicher.

Freilich: Es meldeten sich insgesamt nicht ganz 200 Läuferinnen und Läufer an: 183, um genau zu sein. 19 traten nicht an: Das Feld war also überschaubar. Familiär.

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Für die Statistiker: Von den 163 Starterinnen und Startern kamen lediglich vier nicht ins Ziel: Zwölf Frauen und 28 Männer schafften den Marathon. Ed Gamester (hier im Bild) kam nach 5:41:31 als Letzter an – der schnellste Mann (Adem Stegmann) brauchte 2:59:29; die schnellste Frau (Jackie Stretton) 3:20:44. 59 Männer sowie 61 Frauen beendeten den Halbmarathon. (Siegerin: Sara Holmgren mit 1:27:10; Sieger: Morten Gronneberg mit 1:25:39).

Für die Veranstalter war die geringe Starterzahl bei dem augenzwinkernd "internationalen Meisterschaften im Eis-Marathon und Eis-Halbmarathon" genannten Bewerb aber kein Problem: Gerade weil der Event überschaubar war, würden die Bilder und Geschichten rasch legendär werden: "Kult" sagte man früher. "Viral" heute.

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Der Stimmung tat das familiäre Ambiente ohnehin keinen Abbruch. Im Gegenteil. Auch wenn jeder und jede gab, was ging, war da nicht eine Sekunde jene krampfig-aggressive Verbissenheit zu spüren, die noch beim unbedeutendsten Rennen in Österreich manchmal rüberkommt.

Da waren nur lächelnde und fröhliche Gesichter. Lachen – und Begeisterung auch für das, was die anderen auf den Boden brachten. Hatte ich das nicht schon mal genau so erlebt? Ja, klar: In Ramsvik – beim Westcoast-Trail. Ich fragte einen Läufer neben mir, ob ich mir das einbildete: "Nein, das ist meistens so. Wir Skandinavier gehen die unwichtigen Dinge entspannter an."

Foto: thomas rottenberg

Der Lauf auf dem See setzte sich aus mehreren Autorouten zusammen. Mit Gründen: Ein stehendes Gewässer friert – wenn Wind und Strömung keine relevant Rolle spielen – ziemlich bretteleben zu. Nicht ohne Grund feixten die Icebug-Leute, sei der Frozen Lake Marathon wohl "der flachste Marathon der Welt" (dass zeitgleich auch der Baikal-Marathon stattfand, lassen wir einmal ausgeklammert).

Allerdings muss eine Eisfläche dafür, dass sie spiegelglatt bleibt, auch schneefrei gehalten werden: Schnee, der auf Eis fällt und halb antaut (weil jemand drauftritt, drüberfährt oder weil die Sonne kurz darauf scheint), friert rasch an der Eisfläche an. Das Resultat ist eine unruhige, unangenehme Rumpelpiste.

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Also wird die Strecke am Tisleifjorden die ganze Saison über gepflegt, geputzt und geräumt. Das kostet eine ziemliche Stange Geld: Als Audi seine Testtage kurz vor dem Frozen-Lake-Lauf kurzfristig absagte, stand das Rennen deshalb ebenfalls knapp vor der Absage: Hätte es in den Wochen vor dem Lauf intensiv geschneit, wären die Räumkosten exorbitant nach oben geklettert – und irgendwann beginnt dann jeder Veranstalter zu rechnen.

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So hatten wir perfekte Bedingungen: Saukalt – also weit unter minus 10 Grad in den Tagen vor dem Lauf – bedeutet, dass das Eis stabil ist: Beim Probelauf im Vorjahr hatte es nur knapp unter Null grad gehabt.

Die Sonne von oben hatte die Strecke stellenweise aufgeweicht. Nicht so, dass das Laufen irgendwie gefährlich gewesen wäre – aber doch so, dass es hie und da ein paar Zentimeter Wasser oder Eisschlatz gab.

Foto: thomas rottenberg

Laufen auf Eis ist tough. Nicht auf dem ersten und auch nicht auf dem zweiten Kilometer. Aber wenn sich die kurzen Spikes (niemand lief ohne, ein paar Leute hatten aber Yaktrax – Laufschuh-"Schneeketten" – aufgezogen) knackig in den Boden beißen, gibt das Sicherheit und Stabilität (und macht im Pulk Lärm). Es ist aber auch jedes Mal ein kurzer Full-Stop des Fußes. Man kann die eigene Kraft über die Spikes präziser einsetzen. Beim Bahnlaufen mit Bahnschuhen und super Technik ist das ein Vorteil – aber für die meisten Hobbyläufer sind Bahnschuhe schon auf 400 oder 800 Metern reichlich anstrengend. Wir liefen Halbmarathon. Mindestens.

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Außerdem: Eis ist bockhart. Wenn der Schuh sich exakt in den Boden gräbt, schluckt das viel Dämpfung. Macht man den Schuh aber so weich, dass dieses "Schlucken" kompensiert wird, fährt man im Schuh über der Sohle Schlitten: Da könnte man sich die Spikes zwar nicht gleich sparen, aber irgendwann stolpert man dann eben über den eigenen Schuh.

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Das permanent "harte" Aufsetzen hat irgendwann einen seltsamen Effekt. Meist bemerkt man ihn zuerst bei den anderen – und dann bei sich selbst: Man schlingert zwischen Eis und den dünnen Schneeflecken – weil die weicher, also komfortabler zu belaufen sind.

Der Nachteil: Das ist so, als würde man von Asphalt auf Teppich oder einen Schwamm wechseln. Man wird signifikant langsamer – und der Untergrund frisst Energie.

Foto: thomas rottenberg

Damit umgehen zu können ist Übungs- und Erfahrungssache. Aber auch wenn man es weiß, ist man auf so einem Boden auf längeren Distanzen langsamer als auf der Straße: Sara Holmgren, die Halbmarathon-Siegerin (hier im Bild), flog mir auf ihren letzten zwei Kilometern schwerelos entgegen, als ich gerade bei k17 war.

Sara ist eine schwedische Eliteläuferin – und lief nicht voll. Dennoch liegen Welten zwischen ihrer Halbmarathon-Bestzeit (1:15:21) und ihrer Siegerzeit hier (1:27:10). Anderen Läufern – auch mir – ging es, unseren Leistungslevels entsprechend, nicht anders.

Foto: thomas rottenberg

Aber: Auch wenn der Lauf sich also als weit anstrengender entpuppte als erwartet – und vermutlich irgendwann auch die Höhe eine Rolle zu spielen begann –, übertraf er doch in dem Punkt, auf den es ankommt, alle Erwartungen: Die Stimmung, die Blicke und die Weite der Landschaft waren ein Traum.

Natürlich verfluchten wir das sich immer wieder auf das weithin sichtbare Ziel, aber dann eben auch wieder von ihm weg mäandernde, in den Schnee gefräste Band, auf dem wir liefen.

Natürlich begannen die Fußballen wegen der permanenten Eisschläge zu rebellieren.

Natürlich kam irgendwann die Frage, was da alles solle.

Foto: thomas rottenberg

Und natürlich rollten irgendwann die guten, einige Zeit nach den Halbmarathonies gestarteten Marathonläufer das Feld von hinten auf.

Aber – Hej – das war egal: Die fliegenden Marathonläufer gaben uns und wir ihnen "thumbs up". Alle strahlten.

Die Sonne lachte uns immer öfter an. Die Kilometerzahlen kletterten nach oben. Und irgendwann war da – endlich – keine Schlinge mehr zwischen einem selbst und dem Zielbogen.

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Das Eis kracht unter jedem Schritt. Der Atem geht pfeifend. Das Herz schlägt bis in die Ohren. Die Augen tränen. Wirklich nur wegen Kälte und Wind? Ziellinie.

Die Medaille – das schönste Stück Holz, das es je gab. Wildfremde umarmen einander. Hier und jetzt sind das die besten Freunde, Familie.

Lachen. Keuchen. Strahlen.

Der Blick über den See. Weiß und weit. Sind wir wirklich hier? In diesem Traum in Weiß irgendwo im Nirgendwo?

Zurück in die Wirklichkeit: Ein paar Schritte weiter gibt es Suppe. "Vegan or with meat?" Hauptsache heiß: Das mit den minus 10 Grad könnte doch stimmen. Sobald man steht, wird es kalt. Ziemlich schnell, ziemlich sehr.

Trotzdem: zurück an die Ziellinie. Um die, die jetzt reinkommen, anzufeuern: Sie sind Helden. Wir sind Helden. Aber vor allem: Wir sind glücklich.

Foto: ©icebug

Am Morgen danach: Dichtes Schneetreiben. Starker Wind. Fünf, vielleicht zehn Meter Sicht. Es ist wärmer – der Schnee klebt nass an den Schuhen.

Beim Frühstück nicken wir einander zu: "Glück" ist gar kein Ausdruck – es hätte gestern ja auch so aussehen können.

David, der Mann aus Singapur, setzt sich zu mir: "You know how this will continue: Each and everyone of us will tell the story of us having been the very first Frozen Lake Marathon. People will see the pics. The videos. And next year everybody will want to be part of this."

David lacht. Er weiß, wovon er spricht: Er organisiert Reisen zu Läufen. Zu den Großen – und den Schönen.

Foto: ©icebug

Der Halbmarathon auf dem Tisleifjorden war kein schneller Lauf. Ich brauchte 1:50:35. Das ist der 26. Platz bei den Männern. Da es sich beim Frozen Lake Marathon aber ganz offiziell um die internationalen Icerunning Championships handelte (das Präfix "World" war den Veranstaltern dann doch ein wenig zu hochtrabend), kann ich mich ab sofort "österreichischer Meister" nennen. Britta Ost ist "deutsche Meisterin". David … und so weiter: Dass sie die einzige Deutsche und ich der einzige Österreicher im Rennen war, müssen wir ja nicht unbedingt erwähnen.

Mehr Fotos gibt es auf Tom Rottenberg Facebook-Seite.

Das offizielle Rennvideo ist auf der Facebook-Seite der Veranstalter zu finden.

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise zum und die Teilnahme am Frozen Lake Marathon waren eine Einladung von Icebug Xperience und Icebug.

(Thomas Rottenberg, 20.3.2019)

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