Ronald Richter in der Steuerungszentrale seines Labors auf der Insel Huemul in Patagonien. Der Physiker behauptete, dass ihm am 15. Februar 1951 eine Kernfusion gelungen sei.
Foto: wikimedia/gemeinfrei

Es war einer der größten wissenschaftlichen Betrugsfälle des 20. Jahrhunderts. Und obwohl ein geborener (Alt-)Österreicher Protagonist dieser spektakulären Affäre war, ist deren Geschichte hierzulande nur den wenigsten bekannt, selbst ein deutschsprachiger Wikipedia-Eintrag fehlt. Das liegt vor allem daran, dass sich die Geschichte an einem fernen Ort zutrug: auf der Insel Huemul im Nahuel-Huapi-See, der wiederum im argentinischen Teil Patagoniens liegt, etwa 1.300 Kilometer südwestlich von Buenos Aires.

Zentrum der malerischen Region, die so aussieht wie eine Cinemascope-Version des Salzkammerguts, ist die Provinzhauptstadt Bariloche, wohin sich nach 1945 etliche Nazis aus Deutschland und Österreich flüchteten. Der prominenteste von ihnen war der Kriegsverbrecher Erich Priebke, der erst 1994 von einem US-Journalisten aufgespürt werden musste, ehe man ihn nach Italien auslieferte. Und dass Bariloche heute Südamerikas beliebteste Wintersportdestination ist, dazu haben wiederum einige Ex-Nationalsozialisten aus Tirol – wie etwa die Brüder Fritz und Gustav Lantschner – als Skipioniere beigetragen.

Postapokalyptische Kulisse

Auch im südamerikanischen Sommer lebt man hier am Ostrand der Anden vor allem vom sportlichen Outdoor-Tourismus. Die Insel Huemul, nur wenige Kilometer Luftlinie vom Stadtzentrum Bariloches entfernt, ist für Touristen offiziell zwar nicht zugänglich.

Anreise zur Insel Huemul, rechts im Hintergrund die Stadt Bariloche.
Foto: Klaus Taschwer

Doch wer sich die Mühe macht und das unbewohnte Eiland mit einem privat gemieteten Boot oder Kajak besucht, wird dort mit einer unwirklichen Szenerie belohnt, die Kulisse einer postapokalyptischen Hollywoodproduktion sein könnte. Über einen wackeligen Holzsteg geht es an Land, wo ein schmaler Pfad nach wenigen Schritten mitten durch die dichte Inselvegetation aus üppigen Wildrosensträuchern und Bäumen führt. Bald tauchen schemenhaft erste Gebäude auf – verfallen, unfertig, zerstört und vom üppigen Grün überwuchert.

Die Natur hat längst von den Ruinen der ehemaligen Laboratorien Besitz genommen.
Foto: Klaus Taschwer

Die Ziegelmauern des größten Bauwerks der Insel ragen mehr als zehn Meter in die Höhe: Es sind die Ruinen des unfertigen Reaktorgebäudes, in dem der Physiker Ronald Richter seine geheimen Experimente durchführen wollte.

Das höchste Gebäude der Insel, das für den Reaktor gedacht war, wurde nie fertiggestellt.
Foto: Klaus Taschwer

Nicht weit davon entfernt steht ein halb verfallenes Labor, wo der für die Versuche nötige Strom erzeugt wurde. Und fast völlig zerstört sind die dicken Betonmauern und anderen Reste jenes bunkerartigen Gebäudes, in dem Richter am 15. Februar 1951 angeblich der Durchbruch bei der "thermonuklearen Energiegewinnung" gelang.

Der nachträglich zerstörte Bau, in dem Richter angeblich eine Kernfusion erzeugte.
Foto: Klaus Taschwer

"Kleine Sonnen" in der Flasche

Das war jedenfalls die Sensationsmeldung, die der argentinische Präsident Juan Perón am 24. März 1951 bei einer Pressekonferenz mit Richter in Buenos Aires vor versammelten Journalisten verkündete.

Ronald Richter (links) neben dem argentinischen Präsidenten Juan Perón, der am 24. März 1951 die vermeintliche Erfolgsnachricht in die Welt posaunte.
Foto: wikimedia/gemeinfrei

Damit sei der Weg frei, die Energieprobleme der Zukunft zu lösen – und zwar mittels kleiner Sonnen in Liter- und Halbliter-Gebinden ähnlich wie Milchflaschen, wie Perón anschaulich erklärte. Die unglaubliche Neuigkeit, dass Argentinien mitten im Kalten Krieg und im Wettlauf um die Wasserstoffbombe anscheinend zur Atommacht aufgestiegen war, machte Schlagzeilen und war selbst der "New York Times" eine Meldung auf Seite eins wert.

Aufregung beim österreichischen Gesandten

Über die Ereignisse berichtete auch der österreichische Gesandte in Argentinien ausführlich an das Außenministerium, handelte es sich bei Richter doch um einen bis dahin unbekannten Forscher, der von der Presse als Österreicher bezeichnet wurde. Nach und nach stellte sich heraus, dass Richter eigentlich ein Sudetendeutscher war, wie es in den diplomatischen Depeschen hieß, der 1909 in der böhmischen Stadt Falkenau an der Eger (heute: Sokolov) geboren wurde. 1935 promovierte er an der Deutschen Universität Prag, bis 1945 hatte er in verschiedenen Laboren in Deutschland geforscht, ehe er nach Kriegsende in mehreren europäischen Ländern arbeitete.

Wie aber kam es, dass dieser Ronald Richter zu Peróns Vorzeigewissenschafter aufsteigen und als solcher für eine der größten Schwindeleien der jüngeren Geschichte der Physik sorgen konnte? Was steckte wirklich hinter Richters Experimenten? Der beste Experte für diese Fragen ist Mario Mariscotti, einer der renommiertesten Atomphysiker Argentiniens. Er recherchierte viele Jahre über die komplizierte Affäre und legte 1985 das unübertroffene Standardwerk darüber vor, das vor zwei Jahren unter dem Titel "The Atomic Secret of Huemul Island" auch in einer englischen Ausgabe erschien.

Import von Nazi-Forschern

Dass Richter im August 1948 mit seiner Frau und seinem Kater Ypsilon in Argentinien landete, ging laut Mariscotti vor allem auf den deutschen Luftfahrtingenieur Kurt Tank zurück, der für das NS-Regime moderne Kampfflugzeuge entwickelt hatte. Tank war nur einer von dutzenden deutschen und österreichischen Wissenschaftern und Ingenieuren, die ungeachtet ihrer NS-Vergangenheit von Perón nach Argentinien geholt wurden, um für eine Modernisierung und technologische Aufrüstung des Landes zu sorgen – nicht viel anders taten es die USA mit Wernher von Braun und seinem Team oder die Sowjetunion mit dem Kernphysiker Manfred von Ardenne.

Von österreichischer Seite reiste unter anderem der Chemiker Armin Dadieu unter falschem Namen nach Argentinien ein. Der ehemalige SS-Standartenführer und Ex-Gauhauptmann der Steiermark sollte für Perón unter anderem Raketen entwickeln. Ein anderer typischer Fall ist der von Armin Schoklitsch, der 1944 als SS-Untersturmführer Rektor der Technischen Hochschule Graz wurde, wo auch Dadieu tätig gewesen war. Schoklitsch kümmerte sich nach 1949 um die Erneuerung der argentinischen Wasserkraftwerke.

Kurt Tank, der ab 1947 in Córdoba für Perón den Jagdflieger Pulqui II konstruierte, kannte Richter aus Europa und war von dessen Idee angetan, Flugzeuge mit einem Atomantrieb auszustatten.

Dokumentarfilm über die Pulqui II, Anfang der 1950er-Jahre einer der avanciertesten Jagdflieger weltweit, vorgeführt von Kurt Tank persönlich.
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Also erhielt auch Richter ein Angebot aus Argentinien, wo er bereits wenige Tage nach seiner Ankunft ein Treffen mit Perón hatte, dem er ein noch fantastischeres Projekt vorschlug: nämlich das der billigen Erzeugung "kleiner Sonnen".

Prompt erhielt Richter den Zuschlag des Präsidenten, der kurz zuvor aus politischen Gründen viele der führenden Naturwissenschafter Argentiniens entlassen hatte, die ihn vor den Versprechungen des Physikers hätten warnen können. "Dazu kam, dass Richter sehr überzeugend sein konnte", sagt Mariscotti, der 1979 selbst noch ein Gespräch mit Richter führte: "Sogar der Nachweis, dass seine Behauptungen wissenschaftlich falsch waren, irritierten ihn nicht im Geringsten. Am Ende hatte er immer das letzte Wort: 'Das ist mein Geheimnis.'"

Große Skepsis bei Physikern

Zunächst arbeitete Richter in Córdoba, im Juli 1949 begannen die Bauarbeiten auf der Insel Huemul. Rund 400 Personen waren beschäftigt, um Richters Pläne zu realisieren, die immer wieder abgeändert wurden. "Insgesamt verschlang das Projekt nach heutigem Wert umgerechnet 300 Millionen US-Dollar", schätzt Mariscotti. Angesichts der Sensationsmeldung am 24. März 1951 schien dieses Geld gut angelegt. Doch so gut wie alle seriösen Physiker weltweit meldeten Zweifel an den Behauptungen Richters an, die meisten Forscher taten das allerdings nicht öffentlich.

Einer der ersten Wissenschafter, die auf die Nachrichten aus Buenos Aires öffentlich reagierten, war Hans Thirring, Professor für theoretische Physik an der Universität Wien. In einem Text, der im Mai 1951 in der Zeitschrift "United Nations News" erschien, kam Thirring zu folgender Einschätzung:

"a) Perón ist dem Gerede eines sich selbst täuschenden Fantasten aufgesessen: 50 Prozent

b) Perón ist einem raffinierten Schwindler aufgesessen: 40 Prozent

c) Perón versucht mithilfe von Richter die Welt zu bluffen: 9 Prozent

d) Die Behauptungen Richters bestehen zu Recht: 1 Prozent." (Hier geht es zu einer Kopie von Thirrings Manuskript.)

Kurze Zeit später erhielt Thirring einen Brief von keinem Geringeren als Werner Heisenberg. Der deutsche Physiker billigte Thirrings Ferndiagnose "in jeder Weise" und würde sie "ohne größere Änderungen der Prozentzahlen unterschreiben". (Heisenbergs Brief im Original.)

Doch die Meldung aus Argentinien löste nicht nur Kopfschütteln aus. Der junge US-Astrophysiker Lyman Spitzer, nach dem heute das Spitzer-Weltraumteleskop benannt ist, zweifelte zwar auch an Richters Angaben. Aber der damals 36-jährige Mitarbeiter an der US-Wasserstoffbombe war von der Nachricht doch so inspiriert, dass er unmittelbar danach an einem Design für einen funktionsfähigen Fusionsreaktor zu arbeiten begann, den er Stellarator nannte und der bis heute als eines der beiden machbarsten Konzepte gilt.

Zweifel auch in Argentinien

Im Laufe des Jahres 1951 wurden langsam auch in Argentinien Zweifel an den Wundertaten Richters laut, der immer neue sensationelle Ergebnisse ankündigte, die sich aber nicht einstellen wollten. Also setzte der für das Projekt verantwortliche Oberst Enrique P. Gonzalez – für Mariscotti einer der Helden in der Affäre – 1952 eine Untersuchungskommission ein. Richter wurde aufgefordert, seine angebliche Erzeugung einer Kernfusion vor der Kommission zu wiederholen und scheiterte kläglich.

Im Wesentlichen dürfte es sich bei seiner Versuchsanordnung um einen hochinduktiven Gleichstromkreis mit Lichtbogenstrecke gehandelt haben, in dessen Zentrum sich angeblich eine in Proton-Wasserstoff brennende Plasmazone bildete. Spektakulär anzusehen ist das allemal. Das Spektrogramms, das Richter als Beweis für die am 15. Februar 1951 angeblich erreichte Fusion galt, hatte vermutlich wegen eines technischen Fehlers die hohen Temperaturen angezeigt. Seriöse Schätzungen gehen davon aus, dass er statt der nötigen 150 Millionen Grad Celsius gerade einmal 100.000 Grad erreicht hatte.

Trailer zu einer Dokumentation über das Projekt Huemul. Der vollständige Film ist nur auf Spanisch verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=-1a8sULbzMc
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Ende der Münchhausiade

Damit waren der Spuk auf Huemul und eine der größten wissenschaftlichen Münchhausiaden des 20. Jahrhunderts beendet. Möglich geworden war sie, weil ein autoritär regierender Politiker einem fantastischen Schwindler aufgesessen war. Oder war Richter doch eher ein schwindelnder Fantast? Die für Perón peinliche Angelegenheit endete für Richter glimpflich: Zwar wurde er 1954 wegen Betrugs des argentinischen Parlaments für fünf Tage im Kongressgebäude eingesperrt. Sein weiteres Leben verbrachte er aber unbehelligt in einer Kleinstadt bei Buenos Aires, wo er 1991 verarmt starb – ohne je einen einzigen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht zu haben.

Ob Richter nur ein Scharlatan und Hochstapler war oder womöglich doch ein verkannter Visionär, wurde in Physikerkreisen auch nach seinem Tod immer wieder diskutiert, so etwa im Jahr 2003 in einer kleinen Debatte in der Fachzeitschrift "Physics Today". Die Artikelserie stand unter dem Titel "Genius or Nut?", also "Genie oder Wahnsinniger?". Vermutlich traf es der in einem der Beiträge zitierte Edward Teller am besten. Der Vater der US-Wasserstoffbombe hatte einmal über Richter und seine Ideen gemeint: "Liest man eine Zeile, muss man denken, er sei ein Genie. Liest man die nächste, kommt man drauf, dass er verrückt ist."

Positive Folgen des Betrugs

Einer der besonders originellen Aspekte des Betrugsfalls ist freilich, dass er auch sein Gutes hatte – insbesondere für die Atomphysik in Argentinien, wie Mariscotti in seinem Buch und auch im Gespräch betont: José Antonio Balseiro, der wissenschaftliche Leiter der Untersuchungskommission, wurde nämlich erster Direktor eines "richtigen" Atomforschungszentrums, das 1955 auf dem Festland unmittelbar vor der Insel Huemul und zum Teil noch mit Geräten Richters eingerichtet wurde. Dort gibt es auch einen seit vielen Jahrzehnten funktionierenden Versuchsreaktor.

Blick vom höchsten Punkt der Insel Huemul auf zwei der Laborruinen. Im Hintergrund der Cerro Catedral, Bariloches Skigebiet. Rechts hinter dem Ufer befindet sich das heutige Atomforschungszentrum, das Centro Atómico Bariloche, sowie das Instituto Balseiro.
Foto: Klaus Taschwer

Außerdem sei Richter indirekt dafür mitverantwortlich gewesen, dass Argentinien bereits im Jahr 1951 den ersten Teilchenbeschleuniger Südamerikas aus den Niederlanden ankaufte, so Mariscotti, der neben seiner Tätigkeit als Forscher auch Unterstaatssekretär im Wissenschaftsministerium war. Dass sein Land heute Exporteur von Kernkrafttechnologie und von Starphysikern wie Juan Martín Maldacena ist, der in Bariloche seine Karriere begann, gehe jedenfalls auch auf die Institutsgründung 1955 und damit letztlich auf Richters Projekt zurück.

"Der Streich, mit dem alles begann"

Doch nicht nur in Argentinien, auch an Europas größtem Fusionsreaktorprojekt hat man Ronald Richter nicht vergessen. Mit dem seit 2007 in Bau befindlichen Iter (International Thermonuclear Experimental Reactor) in Südfrankreich will man nach vielen Verzögerungen und geschätzten Investitionen von 15 Milliarden Euro im Jahr 2025 erstmals wirklich Wasserstoffplasma erzeugen. Auf der Homepage von Iter gibt es auch eine Würdigung Richters und des Projekts Huemul. Der etwas verharmlosende Titel des Texts: "The prank that started it all" – "Der Streich, mit dem alles begann". (Linda Erker und Klaus Taschwer, 20.3.2019)